Israels Postdemokratie-Moment

Israels Postdemokratie-Moment


Bei den massiven Protesten, die Israel erschüttern, geht es um weit mehr als Justizreform. Was auffällt ist, die Irrationalität in ihrem Kern

Israels Postdemokratie-Moment

Von Melanie Phillins, Israel haYom

Die politische Krise in Israel wegen der Justizreformen der Regierung hat sich verschärft.

Eine zunehmende Zahl an Institutionen und prominenten Einzelpersonen haben dazu aufgefordert die Veränderungen zu stoppen. Alle sind zutiefst beunruhigt von den enormen Demonstrationen, die sie als zunehmende Bedrohung der Sicherheit Israels und der sozialen Widerstandsfähigkeit wahrnehmen, von der diese Sicherheit abhängt.

Nachdem der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant drohte öffentlich dazu aufzurufen die Reformen zu stoppen, wandte sich Premierminister Benjamin Netanyahu über das Fernsehen an die Nation.

Die Reformen würden Ängste auf beiden Seiten ansprechen, sagte er. Sie würden die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs erweitern, Bürgerrechte für alle Bürger gewährleisten und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Politik und Justiz wiederherstellen.

Das wird die wohl nicht die benötigte Ruhe in die Lage bringen. Israels aktuelle Strudel passt nicht ins Muster normalen politischen Protests. Er repräsentiert eine existenzielle Verunsicherung.

Der Fokus der Opposition ist auf die vorgeschlagene Justizreform gerichtet. Die Proteste werden aber auch von Angst vor den Nationalisten und Religiösen in der Regierungskoalition getrieben, außerdem vom Hass auf Netanyahu, der für einige Leute praktisch den Status eines Dämons erreicht hat.

So bedeutsam diese Faktoren sind, eine Störung diesen Ausmaßes legt nahe, dass etwas weit Fundamentaleres mitspielt. An den Protesten fällt vor allem die Irrationalität in ihrem Kern auf. Obwohl es legitime Bedenken zu den Aspekten des Reformpakets gibt, steht die überdrehte Opposition in keinem Verhältnis dazu.

Die Protestler behaupten zum Beispiel, dass Politikern eine Entscheidungsrolle bei der Auswahl neuer Richter zu geben, wie es vorgeschlagen ist, das Rechtsstaatsprinzip und eine unabhängige Justiz zerstören würde.

Sie sagen, mit den Veränderungen, die die Gerichte davon abhalten von der Knesset beschlossene Gesetze aufzuheben, die Macht juristischer Berater beenden, um Minister der Regierung davon abzuhalten die politischen Programme umzusetzen, für die sie gewählt wurden und das glitschige Konzept der „Angemessenheit“ zu beenden, mit deren Hilfe die die Richter Politik und Ideologie durch Jura ersetzt, würden das Ende der Demokratie und die Abschaffung der Bürgerrechte einläuten.

Doch wie Jura-Professor Avi Bell deutlich macht, könnte viele Jahre nach der Gründung des Staates Israel nur die Knesset Gesetze beschließen und kein Gericht könnte Gesetze aus welchem Grund auch immer aufheben. Der Generalstaatsanwalt und alle anderen Rechtsberater können entlassen werden und ihre Rechtsgutachten niemanden binden. Kein Handeln der Regierung könnte vom Obersten Gerichtshof einfach deshalb rückgängig gemacht werden, weil das Gericht sie als „nicht vernünftig“ ansieht.

Mit anderen Worten: Die Reformen werden Israel weitgehend in die Situation zurückbringen, die vor 1993 vorherrschte, als der Präsident des Obersten Gerichtshofs Aharon Barak seine Revolutionskampagne des Justiz-Aktivismus begann.

Was erklärt dann diesen beispiellosen Aufruhr? Der Hinweis liegt in der Behauptung, dass die Reformen das Ende der Demokratie in Israel bedeutet, deren Werte mehr weiter erkennbar jüdisch sind.

Tatsache ist, dass im Kern der Proteste ein Angriff auf jüdische Werte steckt.

Das Judentum hat etwas Wichtiges sowohl über das Recht wie über Politik zu sagen. Recht ist für die Thora und damit für das Judentum ein zentraler Punkt. Darüber hinaus stellten Richter während der davidischen Monarchie – zusammen mit Propheten und Priestern – eine unerlässliche Bremse für die ansonsten despotische Machtbefugnis des Monarchen dar.

Richter haben also im jüdischen Zivilleben immer eine wichtige Rolle gespielt. Aber noch grundlegendere Bedeutung für das Judentum hat das Prinzip, dass die Gesetze selbst in der Zustimmung des Volks wurzeln.

Die  Autorität des Mose musste in der Zustimmung des Volks und ihrem Versprechen die Gesetze zu befolgen gründen, die er verkündete, wie es im Sinai geschah, wo das Volk Moses bat ihnen das Wort Gottes weiterzugeben und sagte: „Wir werden es tun und wir werden hören.“

Die Betonung auf der Zustimmung der Öffentlichkeit befindet sich im Kern des Judentums wie auch in der Praxis des Judentums die Regierung zu begrenzen, was auf die Denker einen tiefen Eindruck machte, die halfen die zivilen Muster auszuformulieren, die letztlich die westliche Demokratie schufen.

In „Leviathan“ hob Thomas Hobbes die Doktrin der Zustimmung der Öffentlichkeit heraus, wie es auch die Verfasser dessen machten, was im 18. Jahrhundert Großbritanniens konstitutionelle Monarchie wurde. Die davidische Monarchie wurde zur Vorlage für die britische Krone.

In Amerika ist die hebräische Bibel ein auffälliges Element der Gründungsinstitutionen und -gesetze. Die Liberty Bell, die sich in der Independence Hall in Philadelphia befindet, trägt eine Gravur mit einer Inschrift aus (Leviticus) dem 3. Buch Mose: „Ruft Freiheit für alle Bewohnern des Landes aus.“

Demokratie wurzelt in diesem Kernprinzip: Die Gesetze, mit denen das Volk regiert wird, basieren auf der Zustimmung des Volks. Diese Zustimmung wird mit der Wahl der Repräsentanten des Volks ins Parlament nachgewiesen, die diese Gesetze beschließen. Das ist der Grund, dass die Regierung zwar Kontrolle über Gewaltenteilung benötigt, das gewählte Parlament in einem westlichen Staat aber die höchste Institution ist.

Aber jetzt ist die Idee der westlichen Nation selbst ständig angegriffen. Das progressive Narrativ, das heute in der westlichen Kultur so dominiert, behauptet, dass die westliche Nation ausgrenzend, rassistisch und unterdrückerisch ist.

Nationale Gesetze müssen daher von internationalen Richtern wie auch von einheimischen Richtern verkündeten universalen „Menschenrechten“ abgelöst werden, die diese Gesetze über die Gesetze des eigenen Staats stellen. Der demokratische Prozess, über den diese nationalen Gesetze ausgebildet und verabschiedet werden, wird verachtet.

Dieser Prozess ist das, was jetzt in Israel von denen angegriffen wird, die gegen die Justizreformen sind. Die Agenda der Politiker, die vom Volk gewählt wurden, steht in Konflikt mit dem liberalen Universalismus der menschgemachten Menschenrechte, die genehmigte Minderheiten über die Mehrheit stellen und  von Israels aktivistischem Obersten Gerichtshof verkündet werden.

Der amerikanische außenpolitische Experte David Wurmser hat festgestellt, dass die „illiberale“ Linke nicht länger glaubt, Wahlen sollten eine Rolle spielen. Sie glauben stattdessen, dass politische Angelegenheiten ein moralisches Ziel haben, das zu definieren die Linke zu deuten und zu  definieren die Macht haben.

Für solche Eliten sind gewöhnliche Leute, die ihre Ansichten nicht teilen, die „Beklagenswerten“. Im Gegenteil dazu sind Richter – gebildet, links, kosmopolitisch – Leute wie sie selber.

Obwohl die massiven Proteste in Israel überwiegend aus der Linken (mit Rückendeckung von Gruppen mit einer unheilvollen Agenda gegenüber Israel) bestehen, haben sich auch andere angeschlossen, weil sie vor den religiösen und nationalen Elementen in der Regierung und von dem, was sie als Auftakt zu einer autoritären oder diktatorischen Regierung als Ergebnis der Justizreformen Angst haben.

Nichtsdestotrotz ist das, was allen Protestierenden gemeinsame ist, im Grunde, dass sie eine Herrschaft durch Richter einer gewählten Regierung den Vorzug geben würden. Auch wenn man vor einigen Mitgliedern der Regierung zurückschrecken oder wegen Israels funktionsgestörtem politischen System verzweifel mag, ist das ein gefährlicher Umkipp-Punkt – und einer, der einen unheilvollen Widerhall weit über Israel hinaus hat.

Denn dies ist der postdemokratische Moment für den Westen, in dem eine beherrschende Denkweise universellen Gesetzen Priorität vor nationalen Gesetzen gegeben wird, was die Legitimität der Straßenproteste erhöht und politisch-aktivistische Richter als Stoßtruppen des progressiven Angriffs auf traditionelle Werte ernennt.

Wie Wurmser feststellte hat diese Weltsicht auch in Israel eine Anhängerschaft, die eine „über die Judikative in Kern eine quasi-juristische Tyrannei“ geschaffen hat.

Das, sagte er, hat Israel zum „Traumpalast der linksextremen europäischen Progressiven gemacht. Eine Gerichtsstruktur, die sogar von Europa abgelehnt worden ist oder dem meisten Ländern in Europa noch nicht ratifiziert ist“.

Konfrontiert mit einer Drohung mit genau dieser Justizmacht machte Wurmser geltend, dass die „illiberale Linke“ in Israel, Amerika und dem Westen bereit ist, „auf einer gewissen Ebene eine solche Art von Bürgerkrieg zu beginnen, und die Regierungen in den Ländern niederzubrennen, in denen sie sich befinden, um sicherzustellen, dass ihre Macht gesichert wird oder erhalten bleibt“.

Mit anderen Worten: Das ist kein Protest gegen die Regierungspolitik mehr. Es repräsentiert eine fundamentale Spaltung im Westen darüber, wie man die Welt sieht und wie die Gesellschaft geordnet werden sollte.

Es handelt sich um einen extrem gefährlichen Wendepunkt, nicht nur für Israel, sondern für die westliche Zivilisation, in einem Kampf, für den Israels belagerte Regierung jetzt als der unfreiwillige Vorposten offenbart ist.


Dieser Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.

Autor: Heplev
Bild Quelle: U.S. Embassy Tel Aviv, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons


Dienstag, 28 März 2023

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