Königstreue oder Kalifat? Jordaniens heikler Kampf gegen islamistische UnterwanderungKönigstreue oder Kalifat? Jordaniens heikler Kampf gegen islamistische Unterwanderung
Ein mutmaßlicher Raketenbau in Jordanien bringt die Muslimbrüder unter Druck – und rückt Hamas erneut ins Zentrum eines gefährlichen Spiels
Ein Teenager mit Sprengstoff, ein Lager voller Raketenbauteile, ein Ermittler, der seit 2021 wartet. Was wie der Auftakt zu einer düsteren Netflix-Serie klingt, ist Realität im Königreich Jordanien. Die jüngste Enthüllung über eine 16-köpfige Terrorzelle mit Verbindungen zur Terrororganisation Hamas und zur Muslimbruderschaft erschüttert nicht nur Amman – sie bringt ein jahrzehntealtes politisches Arrangement ins Wanken, das bislang als unausgesprochenes Gleichgewicht zwischen dem Haschemitenkönigshaus und den Islamisten galt.
Die jordanischen Behörden sprechen von einem geplanten Raketenbauprogramm. Drei Hauptverdächtige hätten Dutzende Kilogramm hochexplosives Material gelagert, Raketenkörper vorbereitet, genug für rund 300 Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu fünf Kilometern. Die Spur führt laut offiziellen Angaben nach Libanon – zur Hamas, die das Training der Terrorzelle übernommen haben soll. Der Vorwurf: Die Gruppe habe gezielt daran gearbeitet, die nationale Sicherheit Jordaniens zu untergraben, das Land ins Chaos zu stürzen und physische Sabotageakte vorzubereiten.
Dass die Verhaftungen von einem fast schon feierlich produzierten Video begleitet wurden, ist kein Zufall. Es geht nicht nur um Terrorabwehr – es geht um eine Botschaft an die Bevölkerung: Der Staat sieht hin. Und er zieht rote Linien.
Brüder unter Verdacht
Besonders brisant: Die direkte öffentliche Schuldzuweisung an die Muslimbruderschaft. Obwohl sich der offizielle jordanische Ableger der Organisation rasch von der Zelle distanzierte, stand die Anklage im Raum. Und mit ihr ein jahrzehntealter Verdacht, der jetzt neue Nahrung bekommt: Dass die Muslimbruderschaft – die Mutterorganisation der Hamas – mehr ist als nur eine islamisch-konservative Oppositionskraft. Dass sie im Herzen des Landes den Nährboden für islamistischen Radikalismus bietet. Und dass sie, trotz politischer Legalität, eine stille Parallelwelt mit eigenen Loyalitäten aufgebaut hat.
Diese Konstellation hat Geschichte. Seit 1945 ist die Muslimbruderschaft in Jordanien aktiv, lange Zeit sogar mit stiller Duldung des Königs. In einer Region, in der viele Staaten den Bruderschaften mit Repression oder Verbot begegneten – wie Ägypten oder die Vereinigten Arabischen Emirate – setzte Jordanien auf ein riskantes Spiel: legale Mitwirkung gegen politische Zurückhaltung. Die Brüder wurden zu Schulgründern, Wohlfahrtsarbeitern, Sozialarbeitern – zu einer Kraft, die in vielen armen Vierteln mehr Vertrauen genoss als der Staat selbst.
Doch das politische System Jordaniens basiert auf der Loyalität zum Königshaus. Und das wiederum ist – in den Augen vieler radikaler Islamisten – eine illegitime Macht. Monarchien seien Relikte, die die wahre islamische Herrschaft des Kalifats verhinderten, so die Ideologie. Der Widerspruch wurde nie aufgelöst, sondern nur verdrängt. Jetzt bricht er wieder auf.
Palästinensische Identität, jordanisches Dilemma
Ein großer Teil dieses Konflikts ist ethnisch und politisch aufgeladen. Mehr als 65 % der jordanischen Bevölkerung sind palästinensischer Herkunft – und genau diese Bevölkerungsgruppe ist es, in der die Muslimbruderschaft besonders stark verankert ist. Nach den blutigen Auseinandersetzungen im Schwarzen September 1970, als König Hussein palästinensische Aufstände brutal niederschlug, wurde das Thema nationale Identität in Jordanien zur tickenden Zeitbombe. Die Muslimbrüder wurden zum Ventil: für religiöse Sehnsucht, aber auch für eine verdrängte nationale palästinensische Identität.
Die Gründung der Hamas 1987 war dann kein Zufall, sondern eine logische Folge. Die Terrororganisation versteht sich ausdrücklich als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft. Ihre antisemitische Ideologie ist nicht bloß antizionistisch, sondern tief islamistisch – und sie stützt sich auf Netzwerke, die bis tief in jordanische Moscheen reichen.
Nach dem Friedensvertrag mit Israel 1994 zeigte sich die Bruchlinie deutlicher denn je. Während das Königshaus auf Sicherheit und internationale Anerkennung setzte, mobilisierte die Muslimbruderschaft mit Demonstrationen gegen Normalisierung – und wurde zum Sprachrohr eines Teils der Bevölkerung, der Israel nicht als Friedenspartner, sondern als Verrat am palästinensischen „Bruder“ ansah.
Ein gefährlicher Balanceakt
In den letzten Jahren allerdings hat das Regime begonnen, die Samthandschuhe auszuziehen. Die Aufspaltung der Muslimbruderschaft in einen regimefreundlicheren und einen radikaleren Flügel hat die Bewegung geschwächt. Aber nicht ungefährlich gemacht. Gerade pro-Hamas-Demonstrationen, wie sie im Zuge des aktuellen Kriegs ausbrachen, werden zunehmend nicht als legitime Proteste, sondern als destabilisierende Aktionen gedeutet – oft mit dem Verdacht, dass sie auch vom Iran oder Hisbollah beeinflusst sein könnten.
Und jetzt also eine mutmaßliche Terrorzelle, die ausgerechnet mit selbstgebauten Raketen ein Land angreifen sollte, das für Hamas einst ein Rückzugsort war. Ein Land, in dem Khaled Maschal nach einem gescheiterten Mossad-Attentat medizinisch gerettet wurde – auf Befehl von König Hussein höchstpersönlich. Diese Geschichte hat sich gedreht. Jordanien verteidigt nicht mehr Hamas-Anführer. Es jagt sie.
Was bedeutet das? Vielleicht einen Neuanfang. Vielleicht das Ende einer jahrzehntelangen Toleranz gegenüber einer Bewegung, die sich nicht entscheiden kann, ob sie loyal sein oder untergraben will. Vielleicht aber auch nur ein weiterer Akt im politischen Tanz zwischen Königshaus und Islamisten – bei dem keiner den anderen stürzen will, aber beide bereit sind, ihn zu erpressen.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Von Berthold Werner - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8458564
Freitag, 18 April 2025