Israels Gewissensfrage: Retten wir unsere Geiseln – oder opfern wir sie im Krieg gegen die Hamas?Israels Gewissensfrage: Retten wir unsere Geiseln – oder opfern wir sie im Krieg gegen die Hamas?
Die neue Militäroperation „Gideons Wagen“ erhöht den Druck auf die Hamas – doch die Familien der noch 58 Geiseln warnen eindringlich vor einem tragischen Preis.
Während Panzer rollen und Bomben Ziele im Gazastreifen treffen, wächst in Israel ein Schmerz, der leiser ist als das Dröhnen der Kanonen – aber ebenso zerstörerisch. Es ist die Angst der Familien der noch 58 Geiseln, die seit Monaten in den Händen der Hamas gefangen sind. Die neue Militäroffensive der israelischen Armee, genannt „Gideons Wagen“, soll den Terror zerschlagen. Doch für die Angehörigen ist sie vor allem eins: ein Todesurteil auf Raten für ihre Liebsten.
Das Hostage Families Forum, das die Interessen der Geiselfamilien vertritt, veröffentlichte am Sonntag ein alarmierendes Gutachten. Verfasst wurde es von Prof. Hagai Levine, dem Leiter des Gesundheitsteams des Forums, und Tamir Pardo, dem früheren Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad. Ihr Befund ist so klar wie erschütternd: Mit jedem neuen Luftschlag, mit jeder ausgedehnten Bodenoperation werde das Leben der Geiseln gefährlicher. Und die Hoffnung, zumindest die Leichname der Getöteten zurückzubringen, schwindet mit jedem Tag.
„Die lebenden Geiseln befinden sich in unmittelbarer Lebensgefahr. Und wir riskieren, die toten nie wieder zurückzubekommen“, heißt es in dem Papier. Levine wird noch deutlicher: „Wenn wir so weitermachen, verlieren wir beides – die Lebenden und die Toten. Israel kann jetzt das Leben wählen und alle Geiseln zurückbringen. Dies ist der Moment der Entscheidung: retten oder aufgeben.“
Die Worte treffen einen wunden Punkt in der israelischen Gesellschaft. Denn seit Beginn des Krieges gegen die Hamas nach dem beispiellosen Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem über 1.200 Menschen ermordet und Hunderte entführt wurden, steht das Land im permanenten Ausnahmezustand. Doch der militärische Erfolg, der immer wieder verkündet wird – zuletzt mit der Zerstörung von über 670 Hamas-Zielen – bringt den Geiseln bislang keine Freiheit. Im Gegenteil.
Das Gutachten stützt sich auf Berichte von Geiseln, die inzwischen freigelassen wurden. Sie berichten von einem klaren Muster: Nach israelischen Luftangriffen wurden sie von ihren Entführern härter bestraft – mit noch weniger Nahrung, noch mehr Gewalt, noch mehr psychischer Zermürbung. Viele fühlen sich bewusst zurückgelassen, empfinden, dass die Regierung sich mit ihrer Gefangenschaft abgefunden hat. Und mit jedem Tag, der vergeht, wachse der körperliche und seelische Verfall.
Auch äußere Bedingungen verschärfen die Lage. Die Tunnel, in denen viele Geiseln vermutet werden, sind marode, überfüllt, voller toxischer Stoffe. Eine einzige Explosion kann dort zur Katastrophe führen. Das Papier warnt vor Struktureinstürzen, Vergiftungen, willkürlicher Gewalt durch Hamas-Kämpfer. Und es erinnert an einen beunruhigenden Fakt: Ein New York Times-Bericht vom März dokumentierte, dass mindestens 41 Geiseln bereits in der Gefangenschaft ermordet wurden – viele durch Beschuss, manche mutmaßlich gezielt durch ihre Entführer.
Trotzdem setzt Israels Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu weiter auf militärischen Druck. Die Hoffnung: Die Hamas so weit zu schwächen, dass sie kapituliert oder zu einem umfassenden Deal gezwungen wird. Doch was, wenn dieser Plan zu spät kommt? Was, wenn kein Geiselabkommen mehr möglich ist, weil es keine Geiseln mehr gibt?
Die Familien stehen vor einer Wand aus Schweigen, vor einer Regierung, die auf Stärke setzt – und dabei Gefahr läuft, den moralischen Kompass zu verlieren. „Es geht nicht um Politik. Es geht um unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Brüder und Schwestern“, sagte eine Mutter eines entführten Jungen auf einer Protestveranstaltung in Tel Aviv. „Wer nicht alles versucht, sie zu retten, hat kein Recht, dieses Land zu führen.“
Inmitten von Strategie, Kriegszielen und geopolitischem Kalkül gerät der Mensch aus dem Blick. Doch genau darum geht es in Wahrheit: um 58 Seelen, die in Dunkelheit und Angst auf ein Zeichen der Hoffnung warten. Und um eine Gesellschaft, die sich fragen muss, wie viel sie bereit ist zu opfern, um als moralische Nation bestehen zu bleiben.
Autor: Redaktion
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Montag, 19 Mai 2025