600 Tage Krieg – und kein Ende in Sicht: Israels längster Kampf fordert Geduld, Leben und Wahrheit600 Tage Krieg – und kein Ende in Sicht: Israels längster Kampf fordert Geduld, Leben und Wahrheit
"Nur noch ein Schritt bis zum Sieg", versprach Netanyahu – doch dieser Schritt dauert nun bereits 20 Monate. Die Realität in Gaza sieht anders aus.
Seit mehr als 600 Tagen tobt in Israel die längste und intensivste Militärkampagne seiner Geschichte. Die Operation "Schwerter aus Eisen", begonnen nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, hat nun offiziell die Dauer des Unabhängigkeitskriegs übertroffen. Während Premierminister Benjamin Netanyahu immer wieder erklärte, der Sieg sei zum Greifen nah, verdichtet sich ein anderer Eindruck: Dieser Krieg ist längst nicht vorbei – und vielleicht nie wirklich zu gewinnen.
20 Monate lang hat Netanyahu eine einfache Formel wiederholt: Sieg sei nur eine Frage der Zeit. Doch mit jedem Monat, mit jeder Woche, in der Bomben auf Gaza fallen und israelische Soldaten in Tunneln kämpfen, verblasst diese Formel zur Floskel. Schon im November 2023 sagte Netanyahu, Israel stehe vor einem langen Krieg. Nur einen Monat später hieß es, der vollständige Sieg werde „bald“ errungen sein. Im Februar 2024 versprach er, die Offensive in Rafah werde innerhalb weniger Wochen die Entscheidung bringen. Es wurde Mai. Es wurde Juni. Es wurde ein weiteres Kriegsjahr.
Während der Premierminister seine Vision vom totalen Sieg beschwört, bleibt die Realität erbarmungslos: 58 Geiseln befinden sich weiterhin in der Gewalt der Hamas. Die Kämpfe in Gaza flammen immer wieder auf. Die israelische Armee hat enorme Erfolge verzeichnet, zahlreiche Hamas-Kommandanten ausgeschaltet, Waffenlager zerstört, Tunnel blockiert. Doch selbst in den schwer bombardierten Gebieten flackert der Widerstand weiter – oft aus den Trümmern heraus.
Auch aus dem Norden, an der Grenze zum Libanon, droht neues Unheil durch die Hisbollah. Im Süden destabilisieren die Huthi-Rebellen weiter die Region. Inmitten all dessen: ein israelisches Volk, das auf einen Frieden wartet, der sich immer weiter entfernt.
Manche vergleichen diesen Krieg bereits mit dem zermürbenden Libanon-Einsatz zwischen 1982 und 2000, andere mit der endlosen Kampfzone des Jemen. Doch im Unterschied zu jenen Konflikten ist die Intensität in Gaza konstant hoch. Die Zerstörung ist gewaltig, der internationale Druck steigt, und selbst unter den Israelis nimmt die Geduld ab.
In Umfragen zeigen sich viele enttäuscht von der Regierung. Die Rhetorik wirkt abgenutzt, die Realität bleibt komplex. Ein „Sieg“ in einem asymmetrischen Krieg wie diesem – gegen eine ideologisch geprägte Terrororganisation, eingebettet in dicht besiedelte urbane Strukturen – ist ohnehin schwer zu definieren. Was bedeutet Sieg, wenn 58 Geiseln nicht nach Hause kommen? Wenn der Süden Israels immer noch unter Beschuss steht? Wenn Kinder weiterhin in Bunkern schlafen müssen?
Vielleicht liegt genau hier das Problem. Die Regierung hat den Menschen ein Bild vom vollständigen Sieg versprochen – der Vernichtung der Hamas, der Rückkehr aller Geiseln, einer entmilitarisierten Gaza-Zone. Doch im Schatten der Realität verblasst diese Vision. Der Weg in eine stabilere Zukunft führt womöglich nicht über absolute Siege, sondern über bittere Kompromisse.
Was die Hamas betrifft: Ihre militärische Infrastruktur ist schwer beschädigt. Doch als Idee, als Netz aus loyalen Kämpfern, als Symbol des palästinensischen Widerstands – auch wenn dieses Symbol auf Terror gründet – bleibt sie lebendig. Es ist ein Krieg, der militärisch geführt, aber politisch entschieden wird. Und die politische Entscheidung scheint weiter entfernt denn je.
Wenn Netanyahu heute sagt, Israel stehe „am Vorabend eines großen Sieges“, klingt es für viele wie ein Echo vergangener Monate. Es ist eine Ankündigung ohne Ankunft. Es bleibt die Frage: Wann wird aus Ankündigung Verantwortung? Wann wird aus Kriegsführung ein Plan für die Zeit danach?
In Gaza liegt die Gegenwart in Trümmern. In Israel herrscht ein schmerzhafter Stillstand. Das Versprechen vom nahen Sieg – es ist zur Last geworden. Was das Land jetzt braucht, ist keine neue Rhetorik, sondern eine ehrliche Bilanz. 600 Tage sind genug, um zu erkennen: Dieser Krieg lässt sich nicht gewinnen wie ein Schachspiel – sondern nur überleben mit Würde, Wahrheit und einem klaren Ziel.
Autor: Bernd Geiger
Bild Quelle: IDF
Donnerstag, 29 Mai 2025