Clan-Herrschaft im Gazastreifen: Wie bewaffnete Familien Hamas herausfordernClan-Herrschaft im Gazastreifen: Wie bewaffnete Familien Hamas herausfordern
Während die Welt auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas blickt, entsteht im Innern des Gazastreifens eine ganz andere, kaum beachtete Dynamik – eine, die Hamas in ihren Grundfesten erschüttert.
Was passiert, wenn selbst eine Terrororganisation wie Hamas die Kontrolle verliert? Wenn Macht nicht mehr in ideologischen Strukturen, sondern in Familienbanden liegt? Genau das zeichnet sich im Gazastreifen ab – ein Staat im Chaos, in dem nicht nur Israel gegen Hamas kämpft, sondern auch alte, bewaffnete Clans zurückkehren und das Machtvakuum füllen, das die Hamas hinterlässt. Israelische und arabische Quellen berichten übereinstimmend: Hamas hat in weiten Teilen des Gebiets die Kontrolle verloren.
In Nord-Gaza, wo die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) militärisch operieren, hat Hamas de facto keine Autorität mehr. Stattdessen sind es bewaffnete Clans, die – wie in einem düsteren Mittelalter – Gebiete dominieren, sich an Hilfsgütern bereichern, Lagerhäuser plündern und sich gegenseitig bekriegen. Es sind Gruppen, die teils seit Jahrzehnten existieren, über grenzüberschreitende Schmuggelnetze verfügen und sich durch eine Mischung aus Brutalität, Opportunismus und jahrzehntelanger Straflosigkeit zu neuen Machtzentren aufschwingen.
Die IDF beschreibt sie als Milizen. Ihr Ziel ist nicht Gerechtigkeit oder Ordnung, sondern Macht und Profit. Sie schießen auf Hamas-Sicherheitskräfte, wenn diese versuchen, Hilfskonvois zu sichern, und entführen Lebensmittel für den Eigenbedarf oder zum Weiterverkauf. Die Bewohner bleiben schutzlos zurück, eingeschüchtert und ausgeraubt – oft mehrfach. Und inmitten dieser Anarchie vegetieren Zehntausende Vertriebene in Zeltlagern wie in Khan Yunis dahin, ohne Schutz, ohne Stimme.
Alte Netzwerke, neue Macht
Viele dieser Clans sind keine neuen Akteure. Ihre Wurzeln reichen tief in die Geschichte des Gazastreifens. Über Jahre hinweg schmuggelten sie Waffen, Drogen, Elektronik und Zigaretten – aus Ägypten wie aus Israel. Hamas selbst hatte mit einigen dieser Gruppen sogar zeitweise Absprachen, insbesondere in Zeiten, in denen die Islamisten andere Feinde bekämpften oder wie am 7. Oktober 2023 auf Kooperationen bei Überfällen angewiesen waren. Heute jedoch sind diese Clans nicht länger Partner, sondern Gegner. Hamas hat versucht, mit Gewalt zu reagieren: Folter, willkürliche Verhaftungen, Knieschüsse, sogar gezielte Tötungen gehören zum Arsenal. Doch der Boden ist Hamas längst entglitten.
Besonders hervorgetreten ist die Abu-Shabab-Familie unter Führung von Yasser Abu Shabab, einer Figur mit engen Verbindungen zur berüchtigten Tarabin-Großfamilie. Diese wurde aus Rafah vertrieben, hat sich jedoch rasch neue Machtbasen im Norden wie im Süden geschaffen. Laut palästinensischen Berichten spielt sie eine doppelte Rolle: Mal schützt sie Hilfskonvois, mal plündert sie sie. Hamas wirft ihr Kollaboration mit Israel vor – ein schwerer Vorwurf, der jedoch kaum noch disziplinarische Wirkung entfaltet.
Ebenso berüchtigt ist die Dughmush- oder Dajmash-Familie aus Tel al-Hawa und al-Sabra in Gaza-Stadt. Ihr Name ist nicht neu: Die Gruppe war maßgeblich an der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit beteiligt. Auch sie ist für ihre Brutalität bekannt und geriet bereits früher mit Hamas aneinander. Der Tod ihres Anführers im vergangenen Jahr – mutmaßlich durch gezielte Tötung – hat die Gruppe nicht geschwächt, sondern radikalisiert.
Wer herrscht über Gaza?
Neben diesen dominanten Akteuren gibt es eine ganze Reihe kleinerer, aber nicht minder gefährlicher Clans:
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Die Abu-Tir-Familie war einst besonders aktiv im Schmuggel von Sinai aus, insbesondere in Khan Yunis.
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Die al-Kashk-Familie hat ihren Schwerpunkt in Gaza-Stadt und gute Kontakte zu kommunalen Machtzentren.
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Die Abu-Risha-Familie ist bekannt für ihre Nähe zu salafistischen Gruppen und war vor allem in Rafah aktiv.
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Die Shawish-Familie ist zwar kleiner, aber durch schnelles, gewalttätiges Handeln immer wieder auffällig.
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Die Baraka-Familie wiederum gilt als der Fatah nahestehend – also der eigentlichen Konkurrenzorganisation zur Hamas – und agiert vor allem in Gaza-Stadt.
Ehemalige Sicherheitsbeamte schlagen Alarm: Diese Clans sind nicht ideologisch, sie sind pragmatisch – und dadurch unberechenbarer. Sie wollen Macht, Geld, Waffen. Sie kämpfen gegen Hamas nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie es können. Je schwächer Hamas wird, desto stärker werden sie. Sie füllen das Machtvakuum mit Gewalt und Angst – und lassen die Zivilbevölkerung als Faustpfand zurück.
Ein israelischer Sicherheitsexperte fasste es so zusammen: „Es gibt kein Vakuum in Gaza. Wo Hamas sich zurückzieht, tritt sofort ein anderer an ihre Stelle. Und die Clans warten nicht auf Verhandlungen – sie handeln, rücksichtslos und schnell.“ Sollte ein Waffenstillstand Bestand haben, stünde Hamas vor der Mammutaufgabe, diese zersplitterte Ordnung wieder einzufangen. Doch die Uhr tickt – und viele Beobachter zweifeln, dass dies überhaupt noch möglich ist.
Autor: Redaktion
Bild Quelle:
Sonntag, 01 Juni 2025