Ein Machtvakuum in Gaza – und ein Mann, der es füllen willEin Machtvakuum in Gaza – und ein Mann, der es füllen will
Während die Hamas an Rückhalt verliert, präsentiert sich Yasser Abu Shabab als zivile Alternative. Doch hinter seinem Projekt lauern gefährliche Dynamiken – und eine PA, die offiziell nichts mit ihm zu tun haben will.
Im Chaos der zerrütteten Herrschaftsstruktur im Gazastreifen, wo Hilfslieferungen überfallen, Zivilisten getötet und die Macht der Hamas durch interne Konflikte und Proteste geschwächt wird, erhebt sich eine neue Stimme: Yasser Abu Shabab. Ein Name, der bislang nur wenigen bekannt war, wird nun für viele Palästinenser in Rafah zum Hoffnungsträger – oder zur nächsten Illusion.
Abu Shabab verkündete am Montag öffentlich die Gründung eines freiwilligen Zivilkomitees – einer Art Schattenregierung. Sein Aufruf richtet sich an Akademiker, Rentner, junge Menschen und alle, die bereit sind, „der Gemeinschaft zu dienen“. Gesundheitswesen, Bildung, Recht, Technik, Dokumentation – nahezu alle Bereiche des zivilen Lebens sollen abgedeckt werden. Das Ziel: Ordnung schaffen, wo das Regime der Hamas nur noch Spuren von Gewalt und Misswirtschaft hinterlässt.
Die Sprache des Facebook-Postings ist harmlos, fast technokratisch. Gesucht werden: „qualifizierte Fachkräfte mit Erfahrung“ in Bereichen wie „Infrastruktur, Kommunikation, soziale Entwicklung, Sprachvermittlung“. Doch dahinter steckt mehr. Abu Shabab will nicht nur helfen. Er beansprucht Macht. Er nennt seine Unterstützer nicht nur Helfer, sondern strukturiert sie in „Komitees“, „Einheiten“ und sogar „Notfallzentren“. Von „Wiederherstellung zivilen Lebens“ ist die Rede – und von „Wahrung der öffentlichen Ordnung“.
Dieser Versuch, eine alternative Verwaltung zu etablieren, könnte als zivilgesellschaftliche Reaktion auf das Versagen der Hamas gelesen werden – wenn da nicht auch martialische Töne mitschwingen würden. Abu Shabab selbst spricht von „milizähnlichen Strukturen“, die gegen bewaffnete Banden vorgehen wollen, die derzeit Lebensmitteltransporte überfallen. Man habe ein 24-Stunden-Ultimatum gestellt, um diese „Gruppen“ zum Rückzug zu zwingen. Sollte das nicht gelingen, droht man mit Enthüllungen. Welche Mittel er und seine Unterstützer für diese „Säuberungen“ einsetzen wollen, bleibt bewusst vage.
Brisant wird das Ganze durch die Verbindung zur Palästinensischen Autonomiebehörde. In einer Audionachricht, veröffentlicht durch das „Center for Peace Communication“, erklärt Abu Shabab, dass seine Aktivitäten unter dem wachsamen Auge des palästinensischen Geheimdienstes stattfinden – um „terroristische Infiltrationen“ zu verhindern. Offenbar gibt es eine Art stilles Einverständnis mit Teilen der PA, zumindest operativer Natur. Doch offiziell distanziert sich die Autonomiebehörde scharf. Sprecher Anwar Rajeb erklärte gegenüber Medien, dass „keinerlei Verbindung“ zu Abu Shabab bestehe.
Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage darf bezweifelt werden. Dass ein Mann mit solcher Reichweite, der in einem der heikelsten Gebiete des Nahen Ostens de facto Kontrollstrukturen etabliert, dies völlig ohne Rückendeckung aus Ramallah tut, erscheint unwahrscheinlich. Vielmehr zeigt sich hier das Dilemma der PA: Sie will offenbar Einfluss auf Gaza gewinnen, ohne sich offiziell einzumischen – aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden. Ein Drahtseilakt, der auch in der Vergangenheit gescheitert ist.
Ein weiteres beunruhigendes Element ist Abu Shababs Sprachduktus. Wenn er von „territorialer Rückgewinnung“, „geregeltem Rückfluss der Familien“ und „humanitären Korridoren“ spricht, bedient er sich Begriffen, die sonst nur in militärisch-ziviler Übergangslogik verwendet werden. Es geht nicht mehr nur um Hilfsarbeit – sondern um Regierungsambitionen.
Dass Abu Shabab in sozialen Netzwerken betont, sich nicht an den US-Hilfsverteilungen beteiligt zu haben, ist bezeichnend. Denn während in Gaza weiterhin Lebensmitteltransporte angegriffen und Zivilisten erschossen werden – darunter laut Hilfsorganisationen mehrfach durch bewaffnete Hamas-Kräfte selbst –, versucht er sich als die „dritte Option“ zu verkaufen: weder Hamas noch PA, aber auch kein Werkzeug ausländischer NGOs oder der Amerikaner.
Doch diese Strategie ist riskant. Denn sie führt nicht nur zur faktischen Spaltung des Gazastreifens in Einflusszonen, sondern zu einer neuen Form der Parallelstruktur, die weder demokratisch legitimiert noch transparent kontrolliert ist. Was passiert, wenn Abu Shabab morgen entscheidet, dass seine Komitees bewaffnet werden müssen – um „Ordnung“ aufrechtzuerhalten? Was, wenn er seine politische Macht ausweiten will?
In einem Landstrich, in dem Macht nie leer bleibt, sondern immer von der nächsten Fraktion gefüllt wird, ist dieser neue Versuch eines „zivilen Aufbruchs“ gleichzeitig Hoffnung und Gefahr. Hoffnung für die, die genug von Korruption, Hunger und Unterdrückung haben. Gefahr für die, die erkennen, dass eine zivil getarnte Miliz letztlich auch nur ein Machtinstrument ist – mit dem Unterschied, dass sie sich ein freundlicheres Gesicht gibt.
Die Menschen in Gaza brauchen dringend einen echten Neuanfang – mit Sicherheit, funktionierender Verwaltung, fairer Justiz und medizinischer Versorgung. Doch sie brauchen vor allem eines nicht: noch eine Schattenregierung, die vorgibt, ihre Interessen zu vertreten, und dabei eigene verfolgt.
Autor: Redaktion
Bild Quelle:
Dienstag, 10 Juni 2025