Kollaps einer Koalition – oder politisches Pokerspiel? In Jerusalem ticken die UhrenKollaps einer Koalition – oder politisches Pokerspiel? In Jerusalem ticken die Uhren
Dramatische Stunden vor möglicher Auflösung der Knesset: Während die Opposition das Parlament zu Fall bringen will, ringt Premier Netanyahu mit seinen letzten Verbündeten – doch ausgerechnet die Ultraorthodoxen könnten ihn im Stich lassen.
In der israelischen Politik gilt selten etwas als endgültig – bis es zu spät ist. Und doch liegt an diesem Abend eine fast greifbare Endgültigkeit in der Luft. Die Knesset steht kurz davor, sich selbst aufzulösen. Der Antrag zur vorläufigen Abstimmung über ihre Auflösung könnte schon in wenigen Stunden aufgerufen werden – und plötzlich scheint das Unvermeidliche nicht mehr weit.
Was als taktisches Muskelspiel begann, droht nun zur Staatskrise zu werden. Die Gespräche zwischen den Ultraorthodoxen, dem Likud-nahem Parlamentspräsidenten Yuli Edelstein, dem Büro von Premierminister Netanyahu und den juristischen Beratern der Knesset sind festgefahren. Es gibt keinen abgestimmten Gesetzentwurf, keinen tragfähigen Kompromiss zur Wehrdienstregelung – und keine Garantie mehr, dass die Regierung bis zum Ende der Woche überhaupt noch existiert.
Das Dilemma der Ultraorthodoxen – und die Angst vor der Verantwortung
Ironischerweise sind es ausgerechnet die ultraorthodoxen Parteien, die über das Schicksal dieser Regierung entscheiden könnten – und vielleicht nicht wollen. Der Vorsitzende von Shas, Aryeh Deri, der politische Veteran, der mehr als einmal als Königsmacher auftrat, spielt in diesen Stunden eine zentrale Rolle. Er weiß: Wenn der Antrag zur Parlamentsauflösung durchgeht, wird ihm die Schuld zugeschoben werden – vor allem in den Reihen der Rechten, aber auch bei den eigenen Anhängern, die lieber Macht als Wahlkampf wollen.
Dabei war die Drohung mit dem Koalitionsbruch ursprünglich als Druckmittel gedacht. Die Ultraorthodoxen wollten Netanyahu zwingen, endlich ihre Bedingungen im Streit um den Militärdienst für Yeshiva-Studenten zu erfüllen. Doch das Spiel wurde gefährlich – vielleicht zu gefährlich. Denn die Opposition, die ohnehin auf Neuwahlen drängt, hat kein Interesse mehr an Vermittlung. Ihr Ziel: die Regierung stürzen, und zwar heute Abend.
Netanyahus Spielraum schrumpft – und er weiß es
Während draußen auf den Straßen Jerusalems erste Protestgruppen zusammenkommen, kämpft Netanyahus Büro fieberhaft darum, die Abstimmung noch abzuwenden. Seine Unterhändler versuchen, die Ultraorthodoxen zu einer Gnadenfrist zu bewegen – ein paar Tage, nicht mehr. Doch in Wirklichkeit gibt es wenig, was er noch anbieten kann. Der Premier sitzt in der Zwickmühle: Gibt er zu viel nach, verliert er das rechte Lager; bleibt er hart, verliert er die Koalition.
Die Ironie liegt darin, dass fast keiner der Beteiligten wirklich Neuwahlen will – nicht einmal die Ultraorthodoxen, die bei der letzten Wahl große Gewinne einfuhren. Sie fürchten, dass das rechte Lager zersplittert, dass enttäuschte Wähler zu Smotrich oder Ben Gvir abwandern oder dass es überhaupt keine Mehrheit mehr gibt. Doch je länger sich die Krise zieht, desto mehr wird klar: Es gibt keine Lösung mehr, mit der alle das Gesicht wahren können.
Die Uhr tickt – und das Vertrauen zerbricht
Was einst eine Koalition der Macht war, ist heute ein zerbröselndes Zweckbündnis, das nur noch durch gegenseitige Erpressung zusammengehalten wird. In der Knesset geht niemand mehr von einer echten Einigung aus. Die Stimmung ist gereizt, das Misstrauen allgegenwärtig. Selbst Veteranen des politischen Geschäfts wirken ratlos. Denn es geht nicht mehr nur um Gesetze oder Verhandlungen – es geht ums nackte Überleben.
In den späten Abendstunden wird sich entscheiden, ob die Abstimmung wirklich kommt. Doch eines ist schon jetzt klar: Das Vertrauen, das diese Koalition einmal zusammenhielt, ist nicht mehr da. Und wenn es nicht heute auseinanderbricht, dann vielleicht morgen. Oder in zwei Wochen. Die Zersetzung ist längst da.
Und was dann?
Eine Auflösung der Knesset würde Israel zum dritten Mal in weniger als fünf Jahren in Neuwahlen stürzen – inmitten einer Sicherheitskrise im Norden, eines ungelösten Gaza-Konflikts und wachsender Spannungen im Innern. Die Linke ist zersplittert, das Zentrum geschwächt, und das rechte Lager hat sich in persönliche Rivalitäten aufgelöst. Der Wahlkampf wäre schmutzig, verbissen und unversöhnlich.
Und Netanyahu? Er würde wohl wieder antreten. Vielleicht gewinnen. Vielleicht verlieren. Aber seine Machtbasis bröckelt. Wenn selbst die Ultraorthodoxen, seine loyalsten Partner, ihn fallen lassen – wer bleibt ihm dann noch?
Autor: Redaktion
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Mittwoch, 11 Juni 2025