Israels Armee beruft jetzt 54.000 Ultraorthodoxe ein– und der Widerstand wächstIsraels Armee beruft jetzt 54.000 Ultraorthodoxe ein– und der Widerstand wächst
Die israelische Armee startet einen historischen Vorstoß: Zehntausende ultraorthodoxe Männer sollen zum Militärdienst einrücken. Doch es geht nicht nur um Sicherheit – sondern um Macht, Gerechtigkeit und das Selbstverständnis des Staates.
Die israelische Armee hat angekündigt, ab sofort rund 54.000 ultraorthodoxe Männer im Alter zwischen 16 und 26 Jahren zum Wehrdienst einberufen zu wollen – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte des Landes. Es ist ein radikaler Schnitt mit alten Gewohnheiten, ein politisches Erdbeben, und ein gesellschaftlicher Test für die Demokratie.
Die Schonzeit ist vorbei
Seit Jahrzehnten genießen ultraorthodoxe Juden (Haredim) weitgehende Ausnahmeregelungen vom Wehrdienst. Mit Berufung auf das Thorastudium als "nationaler Dienst" wurde ihr Fernbleiben von der Armee politisch gedeckt – auch weil sie für Koalitionen als Machtfaktor gebraucht wurden. Doch mit dem 7. Oktober 2023 hat sich Israels Realität dramatisch verändert. Die brutalen Massaker der Hamas, der Krieg gegen den Iran, der Kampf in Gaza: Sie haben das Bewusstsein verändert – und das Verständnis dafür, wer die Last der Landesverteidigung trägt.
In der Öffentlichkeit wächst der Unmut: Während Zehntausende israelische Reservisten seit Monaten ihre Familien verlassen, Traumata durchleben und an den Fronten verbluten, leben viele Haredim in geschützter Distanz – steuerfinanziert und ohne Pflicht zur Beteiligung. Das Urteil des Obersten Gerichts, das die gesetzliche Grundlage für die pauschalen Ausnahmen kippte, setzt die Politik unter Zugzwang. Doch in der Knesset blockiert die religiöse Rechte jede neue Regelung. Deshalb handelt jetzt das Militär.
54.000 Einberufungen, 250 Gefängnisplätze – und viel Risiko
Die IDF kündigte an, dass ab sofort alle Einberufungen gelten – die Frist für tatsächlichen Dienstantritt endet im Juli 2026. Zuvor waren bereits 24.000 Haredim zum Dienst geladen worden, mit vernachlässigbarem Echo. Nun soll der Druck steigen. Wer nicht reagiert, riskiert bald die Verhaftung. Derzeit stehen 250 bis 300 Gefängnisplätze für Wehrdienstverweigerer bereit – möglicherweise kommen Hunderte weitere hinzu.
Die Strategie ist dabei vorsichtig kalibriert: Keine martialischen Razzien in Mea Schearim oder Bnei Brak. Stattdessen setzt die Armee auf gezielte Festnahmen an Flughäfen, Checkpoints und bei Gelegenheitskontrollen – so wie zuletzt am Ben-Gurion-Flughafen, wo bereits 140 Wehrpflichtige festgenommen wurden. Bis September sollen auch die bürokratischen Verfahren deutlich beschleunigt werden – von der ersten Vorladung bis zur Haft.
Dabei warnt das Militär selbst vor Pannen: Auch berechtigte Ausnahmefälle, etwa Verletzte oder psychisch Kranke, könnten versehentlich auf Haftlisten geraten. Doch die IDF hält das Risiko für vertretbar – zu lange habe man solche Fehler vermeiden wollen und dadurch jede wirksame Durchsetzung verhindert.
Ohne Rabbiner kein Wandel
Trotz der Massivität des Vorstoßes ist man sich beim Militär bewusst: Ohne offene Unterstützung durch die haredische Führung wird der Wandel kaum Wirkung zeigen. Noch immer sprechen sich die meisten Rabbiner strikt gegen den Wehrdienst aus – teils aus theologischen, teils aus politischen Gründen. Wer sich dennoch meldet, wird in vielen Gemeinschaften sozial geächtet, als Abweichler stigmatisiert, oft auch wirtschaftlich boykottiert. Der ideologische Graben verläuft tief – und droht, in den kommenden Monaten offenzutreten wie nie zuvor.
Dabei zeigen Haredi-Einheiten wie die Hashmonaim-Brigade, dass es auch anders geht: Zwei Kompanien kämpfen aktuell im Gazastreifen. Eine von ihnen war an der Eliminierung von 41 Terroristen beteiligt – eine symbolische Antwort auf all jene, die behaupten, ultraorthodoxe Soldaten seien untauglich oder unwillig. Generalstabschef Eyal Zamir lobte die Einheit offen: „Ihr seid Pioniere – und ihr beweist, dass Glaube und Dienst am Land sich nicht ausschließen.“
Doch von breiter gesellschaftlicher Anerkennung sind diese Soldaten noch weit entfernt – sowohl im säkularen wie im religiösen Israel.
Die Armee verändert sich – und das Land mit ihr
Der Vorstoß betrifft nicht nur die Haredim. Auch andere Gruppen rücken ins Visier. So wurden kürzlich 5.300 Reservisten reaktiviert, die vor dem 7. Oktober als „nicht mehr erforderlich“ galten. Das zeigt: Die IDF will wachsen, sich breiter aufstellen und sich von ideologischen Sonderwegen lösen.
Doch die entscheidende Front liegt nicht in Gaza oder im Norden. Sie verläuft mitten durch die israelische Gesellschaft – zwischen Pflicht und Privileg, zwischen religiösem Dogma und demokratischer Verantwortung.
Der Konflikt um die Wehrpflicht wird nicht nur über Rekrutierungen und Gefängniszellen entschieden – sondern darüber, ob es Israel gelingt, ein neues, gerechteres Selbstverständnis zu finden. Eines, in dem Glaube nicht als Vorwand für Sonderrechte dient, sondern als Quelle von Verantwortung.
Denn letztlich geht es um die Frage, wer bereit ist, für dieses Land einzustehen – und wer nicht.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Por Yael Casteglione - Obra do próprio, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44270852
Montag, 07 Juli 2025