Israels humanitäre Stadt in Rafah: Vision für Ordnung oder diplomatische Gratwanderung?

Israels humanitäre Stadt in Rafah: Vision für Ordnung oder diplomatische Gratwanderung?


Mitten im zerstörten Süden Gazas soll eine neue Stadt entstehen – geplant von Israel, kontrolliert von Israel. Was als pragmatische Antwort auf humanitäre Not beginnt, wirft Fragen auf: rechtlich, politisch und strategisch.

Israels humanitäre Stadt in Rafah: Vision für Ordnung oder diplomatische Gratwanderung?

Mitten in den Ruinen der einstigen Hamas-Hochburg Rafah soll ein neues Kapitel beginnen: eine Stadt für hunderttausende Palästinenser, errichtet von Israel – in 60 Tagen, unter vollständiger Kontrolle, ohne Hamas, ohne Rückweg. Was für Israels Verteidigungsminister Israel Katz nach einer pragmatischen Lösung für ein humanitäres und strategisches Dilemma klingt, ist für viele im In- und Ausland ein Affront: gegen Völkerrecht, gegen Menschenwürde – und gegen politische Realitäten.

Was Israel wirklich plant

Die Ankündigung kam Anfang der Woche, fast beiläufig, aber mit großer Sprengkraft: Verteidigungsminister Katz erklärte, Israel werde eine „humanitäre Stadt“ im Süden des Gazastreifens errichten, um mehrere hunderttausend Palästinenser dort dauerhaft unterzubringen. Der Ort: das weitgehend zerstörte Rafah, an der ägyptischen Grenze, im Bereich zwischen der sogenannten Philadelphi-Route und dem ehemaligen israelischen Morag-Korridor – beides heute unter Kontrolle der IDF.

Die technische Umsetzung ist militärisch durchdacht: Infrastruktur, Zelte, feste Gebäude, Versorgung über zentrale Zuflüsse. Kein freier Zugang, keine Rückkehr, keine Hamas. Katz betonte, die Einreise werde streng kontrolliert, Ausreise nicht gestattet. Einzige Option für die Bewohner: dort bleiben – oder das Gebiet ganz verlassen. De facto wäre die Stadt ein geschlossenes Areal. Ein Korridor ins Ungewisse.

Warum Israel das tut

Die Motivation liegt auf mehreren Ebenen: Sicherheit, Kontrolle, internationale Vermittlung – und nicht zuletzt die Hoffnung auf eine langfristige Entflechtung. In israelischen Regierungskreisen wird offen darüber gesprochen, die Stadt solle nicht nur eine Notlösung für Geflüchtete sein, sondern den Grundstein legen für eine „neue zivile Ordnung“ in Gaza – ohne Hamas, ohne Tunnel, ohne Raketen.

Ein zentrales Ziel: freiwillige Auswanderung. „Anreize zur humanitären Ausreise“ nennen es israelische Sicherheitskreise. Die Stadt wäre damit nicht nur Auffangbecken – sondern Sprungbrett. Wer bleibt, bleibt unter israelischer Kontrolle. Wer geht, geht – möglichst dauerhaft.

Angeführt wird das Projekt vom Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, Amir Baram, früher stellvertretender Generalstabschef. Die IDF sei bereit, die Stadt in einer 60-tägigen Feuerpause zu errichten, so Katz. Die Maßnahme sei Teil einer langfristigen Stabilisierungspolitik – mit militärischer Sicherheit und humanitärer Versorgung, aber ohne die Rückkehr zur alten Ordnung.

Sturm der Entrüstung

Die Reaktionen folgten prompt – und hart. Großbritanniens Außenminister David Lammy zeigte sich „überrascht und besorgt“ und erklärte, der Vorschlag widerspreche dem „Kurs in Richtung Waffenstillstand“. Auch Katar, bisher zentraler Akteur bei der Vermittlung, reagierte scharf: Man lehne jede Form von Bevölkerungstransfer strikt ab – ob direkt oder indirekt. Selbst die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich in den letzten Jahren Israel angenähert hatten, signalisierten Unmut: Eine Verlagerung der Bevölkerung komme nicht infrage.

Erwartungsgemäß verurteilte auch die Hamas das Vorhaben – nicht zuletzt, weil es ihr die Kontrolle entzieht. Doch bemerkenswerter ist, dass sogar Akteure aus dem Westen, die Israel sonst diplomatisch stützen, nun warnende Töne anschlagen.

Völkerrecht am Limit

Besonders brisant wird die Lage durch rechtliche Bewertungen aus Israel selbst. So warnt der renommierte Völkerrechtler Prof. Yuval Shany von der Hebräischen Universität Jerusalem, das Vorhaben könne schwerwiegende juristische Konsequenzen haben – und im Extremfall sogar als Kriegsverbrechen eingestuft werden.

Shany betont, dass die erzwungene Umsiedlung von Zivilisten – auch wenn sie indirekt durch „Anreize“ geschieht – nach internationalem Recht in Kriegszeiten nur unter strengsten Voraussetzungen zulässig ist. Ein „dringender militärischer Zweck“ sei nötig – und selbst dann dürften Evakuierungen nur temporär und unter Rückkehroption erfolgen. Die geplante Stadt erfülle keine dieser Bedingungen.

Problematisch sei auch der geplante Einreisezwang ohne Ausreisemöglichkeit. „Man kann Menschen nicht einfach einsperren“, so Shany. Zudem könne die Konzentration aller humanitären Hilfslieferungen in einem Gebiet – mit gleichzeitiger Blockade anderer – als gezielte Zwangsmaßnahme gewertet werden. In Summe drohe Israel eine neue juristische Front – zusätzlich zu den ohnehin schon laufenden Verfahren beim Internationalen Gerichtshof.

Der Spagat zwischen Kontrolle und Krise

Für Israel steht viel auf dem Spiel: Einerseits drängt die Notwendigkeit, die Kontrolle über den Gazastreifen zu stabilisieren und das Wiedererstarken der Hamas zu verhindern. Andererseits erzeugt jede militärische oder humanitäre Maßnahme in diesem Kontext neue diplomatische und juristische Risiken.

Die Idee einer humanitären Stadt mag aus Sicht Israels nachvollziehbar sein – gerade angesichts der weitgehend zerstörten Infrastruktur in Gaza, der Not von über einer Million Binnenflüchtlingen und der militärischen Notwendigkeit, klare Zonen zu schaffen. Doch was als Lösung gedacht ist, könnte zum nächsten Pulverfass werden.

Statt eines Modells für Wiederaufbau und Ordnung droht ein Symbol unfreiwilliger Umsiedlung zu entstehen – in einer Welt, die sensibel reagiert auf jedes Echo der Vertreibung. Ob Israel diesen Spagat meistern kann, wird weniger von seiner militärischen Fähigkeit abhängen als von seiner diplomatischen Geschicklichkeit und der Bereitschaft, über den Tellerrand strategischer Logik hinauszusehen.


Autor: Redaktion
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Freitag, 11 Juli 2025

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