640 Tage in der Hölle – und kein Ende in Sicht640 Tage in der Hölle – und kein Ende in Sicht
Die Bilder sind verblasst, die Namen kaum mehr genannt. Doch das Grauen dauert an: Israels verschleppte Bürger vegetieren in den Tunneln der Hamas – verwundet, ausgezehrt, gebrochen. Und die Welt sieht weg.
Es sind keine Zahlen. Keine Verhandlungsmasse. Keine politisch taktierbaren Figuren auf einem strategischen Spielbrett. Sie sind Menschen. Junge Männer, Väter, Zwillinge, Freunde. Und sie sind seit 640 Tagen in den Händen einer Terrororganisation, tief unter der Erde, unter unvorstellbaren Bedingungen – und mit jedem Tag wird ihr Zustand schlechter.
Im Zuge der Gespräche über eine mögliche Waffenruhe und die Freilassung israelischer Geiseln in Gaza wurde jetzt ein seltenes Schlaglicht auf die Realität geworfen, die diese Männer Tag für Tag durchleben. Aus einem vertraulichen Bericht des israelischen Sicherheitskabinetts, bekannt geworden über Kanal 12, geht hervor: Fast alle der noch lebenden Geiseln sind schwer krank. Viele sind verwundet, leiden unter extremer Unterernährung, psychischer Zerrüttung, Folterfolgen – manche stehen kurz vor dem Erblinden, andere kurz vor dem Zusammenbruch.
Doch anstatt alles daran zu setzen, sie sofort nach Hause zu bringen, diskutieren Politiker über Prioritäten. Über Phasen. Über Zeitpunkte. Über logistische Details.
Die Hölle in den Tunneln
Der 24-jährige Alon Ohel etwa droht zu erblinden. Seine Augen sind schwer verletzt. Er wird alleine festgehalten, ohne medizinische Hilfe, ohne Hoffnung. Die Geisel Eliyah Cohen, die inzwischen freikam, bestätigte seinen Zustand. Matan Angrest, 21, wurde gefoltert – mehrfach. Er könnte bleibende Schäden davontragen.
Yosef-Haim Ohana, ebenfalls 24, leidet an einer schweren psychischen Krankheit, die sich seit Beginn der Geiselhaft verschärft hat. Er wird teilweise zusammen mit Elkana Bohbot gehalten, der ebenfalls psychisch schwer angeschlagen ist. Beide befinden sich in einem Zustand, den jeder Arzt als akute Notlage beschreiben würde.
Ziv und Gali Berman, 27-jährige Zwillinge, sind vermutlich voneinander getrennt. Es gibt kaum gesicherte Informationen über ihren Zustand, doch Experten gehen davon aus, dass auch sie unter massiven physischen und psychischen Belastungen leiden.
Der 32-jährige Avinatan Or wird als „akut unterernährt“ beschrieben – ohne Zugang zu ausreichend Wasser. Andere, wie Rom Braslavski, sind an beiden Armen verletzt. Guy Gilboa-Dalal wurde misshandelt, fast zu Tode gehungert.
Wer darf zuerst raus – und wer bleibt?
Trotz dieser erschütternden Informationen scheint es keine klare Linie zu geben, welche der Geiseln im Rahmen des aktuell diskutierten Abkommens zuerst freikommen sollen. Offiziell heißt es, medizinische Daten würden helfen, Prioritäten festzulegen – doch hinter den Kulissen heißt es, dass jeder einzelne dieser Fälle ein humanitärer Notfall sei. „Nach 640 Tagen in der Gewalt der Hamas gibt es keine Abstufungen mehr – nur noch Leid“, sagte ein israelischer Minister laut Medienberichten.
Das derzeitige Konzept sieht vor, innerhalb von 60 Tagen zehn lebende und 18 tote Geiseln freizulassen. Acht Lebende sollen gleich zu Beginn freikommen, zwei weitere erst am fünfzigsten Tag. Die toten Geiseln – Überreste von Menschen, die Israel nicht einmal beerdigen konnte – sollen in mehreren Wellen folgen. Am Ende dieses makabren Prozesses blieben 22 Verschleppte weiterhin in der Gewalt der Hamas. Zehn von ihnen gelten noch als lebend.
Stimmen der Angehörigen
Für die Angehörigen ist das kaum zu ertragen. Vicky Cohen, Mutter des entführten Soldaten Nimrod Cohen, findet klare Worte: „Es ist ein grausames Abkommen, das Geiseln zurücklässt.“ Sie spricht für viele Familien, die sich nicht nur mit dem unerträglichen Gedanken quälen, dass ihr Kind oder Bruder vielleicht nie mehr lebend zurückkommt, sondern auch damit, dass ihr Schicksal zum Verhandlungsgegenstand wird.
Einige der Männer wie Eitan Horn wurden von ihren Familienmitgliedern getrennt – während der Bruder in einer früheren Phase freikam, blieb er zurück. Eitan leidet an einer chronischen Krankheit. Auch er wird nicht behandelt. Maxim Herkin, Segev Kalfon, Bar Kuperstein – ihre Namen stehen in einer Liste, die längst zu lang ist.
Einige Namen, wie der des nepalesischen Studenten Bipin Joshi oder des jungen Soldaten Tamir Nimrodi, erscheinen nur noch als Schatten. Von ihnen gibt es seit dem 7. Oktober keinerlei Lebenszeichen mehr.
Ein moralischer Abgrund
Wer an dieser Stelle noch von politischen Schachzügen, strategischen Optionen oder diplomatischen Kompromissen sprechen will, muss sich fragen lassen, was ein Menschenleben noch wert ist.
Diese Männer – die Verschleppten von Gaza – sind keine abstrakten Schicksale. Sie sind Zeugnisse eines moralischen Versagens, das nicht nur die Hamas zu verantworten hat. Auch die internationale Öffentlichkeit schweigt. Zu laut sind die Debatten um Waffenruhen, zu verlogen die Appelle an „alle Seiten“, als dass sich jemand ernsthaft fragt, wie es ist, in einem Tunnel zu liegen, blind, hungrig, psychisch zerbrochen – und zu wissen, dass du vielleicht nicht auf der Liste stehst.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot
Samstag, 12 Juli 2025