Regierung ohne Mehrheit: Der Bruch mit Shas erschüttert Netanyahus MachtbasisRegierung ohne Mehrheit: Der Bruch mit Shas erschüttert Netanyahus Machtbasis
Die ultraorthodoxe Shas-Partei zieht sich aus der Regierung zurück – aus Protest gegen das Scheitern der Wehrdienstbefreiung für Yeshiva-Studenten. Netanyahus Koalition steht nun auf tönernen Füßen.
Seit Jahrzehnten tanzt die israelische Politik einen zermürbenden Reigen um das Thema Wehrdienstbefreiung für Ultraorthodoxe. Mal drohen sie mit Rückzug, mal setzen sie es um – und am Ende finden sich oft faule Kompromisse. Doch was sich in diesen Tagen in Jerusalem abspielt, trägt eine neue, gefährliche Qualität. Die Shas-Partei – politisches Sprachrohr der sephardisch-haredischen Bevölkerung – hat gemeinsam mit der aschkenasischen UTJ die Koalition verlassen. Damit verliert Premierminister Netanyahu seine parlamentarische Mehrheit. Der Grund: die Weigerung, ein umfassendes und dauerhaftes Gesetz zur Befreiung der Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst durchzusetzen.
Das mag man als politischen Reflex abtun – ein altbekanntes Muster aus Drohung, Rückzug und Rückkehr. Aber es wäre ein schwerer Fehler, darin nur Routine zu sehen. Denn diesmal steht weit mehr auf dem Spiel als das fragile Gleichgewicht einer Regierungsmehrheit: Es geht um das Vertrauen in den demokratischen Kern Israels, um die Frage, wie lange ein Staat das Aushöhlen seiner Wehrgerechtigkeit dulden kann, ohne daran zu zerbrechen.
Der Preis des Stillstands
Netanyahu ist nicht das erste Regierungsoberhaupt, das sich am ultraorthodoxen Wehrdienst-Dilemma die Zähne ausbeißt. Schon 2012 führte ein Urteil des Obersten Gerichts zur Aussetzung des Tal-Gesetzes, das bis dahin Jeschiwa-Studenten systematisch vom Dienst befreite. Was folgte, war eine politische und gesellschaftliche Dauerkrise: Proteste säkularer Reservisten, zerplatzte Regierungskoalitionen, symbolische Rekrutierungen, neue Ausnahmeregeln, neue Gerichtsverfahren.
Aber diesmal kommt alles zur Unzeit. Israel befindet sich in einer tiefen sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Erschütterung. Der Krieg gegen die Hamas ist noch nicht beendet, die Front im Norden bleibt angespannt, die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich mit jedem Tag. Dass nun ausgerechnet jene Kräfte, die den Staat kategorisch ablehnen, wenn es um Gleichheit und Pflichten geht, die Regierung ins Wanken bringen, ist ein Hohn – und eine Einladung zur politischen Erpressung.
Spirituelle Erpressung im Mantel der Frömmigkeit
Shas’ „Rat der Weisen der Tora“ hat mit seiner Entscheidung klargemacht, dass es ihm nicht um das Wohl Israels, nicht um nationale Sicherheit oder gesellschaftlichen Zusammenhalt geht – sondern um die ideologische Immunität seiner Wählerschaft. Dass man sich gleichzeitig weigert, die Opposition zu unterstützen, ist keine staatsmännische Mäßigung, sondern reines Kalkül: Man will den politischen Druck maximieren, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Man möchte den Nutzen der Macht ohne die Verantwortung ihrer Konsequenzen.
Statt Dialog gibt es Drohungen. Statt Reformen gibt es Rückzüge. Und während die israelische Gesellschaft auf belastbare Regeln und eine faire Lastenteilung drängt, verteidigen diese Parteien ein System, das junge Männer aus ideologischen Gründen von jeder zivilen oder militärischen Pflicht ausnimmt – auf Kosten der Allgemeinheit. Allein die Tatsache, dass Knesset-Ausschüsse und ganze Ministerien nun vakant sind – darunter Gesundheit, Inneres, Soziales – zeigt, wie hoch die Scherben fliegen, wenn Fundamentalinteressen über Gemeinwohl gestellt werden.
Ein bitterer Déjà-vu-Moment
Es ist nicht das erste Mal, dass Israels Regierung unter dem Druck der Haredim ins Wanken gerät. Und doch fühlt es sich diesmal anders an. Das liegt nicht nur an der Kriegsrealität, sondern auch an der wachsenden Einsicht in der israelischen Mitte: Dass dieses Modell nicht länger tragbar ist. Dass man sich nicht ewig freikaufen kann von Pflichten, nur weil man sich auf göttliche Berufung beruft. Dass Gleichheit vor dem Gesetz keine fromme Floskel sein darf.
Oppositionsführer Yair Lapid brachte es in seiner Reaktion auf den Punkt: Eine Minderheitsregierung kann kein Land führen, keine Kriege verantworten, keine Milliarden verteilen – und schon gar nicht in einer nationalen Notlage Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Seine Forderung nach Neuwahlen ist nachvollziehbar, doch auch sie greift zu kurz. Denn egal, wer am Ende regiert – solange ultraorthodoxe Parteien ihre Macht über Erpressung definieren, wird sich nichts ändern.
Eine offene Wunde Israels
Es geht also nicht nur um eine Regierungskrise. Es geht um eine Systemkrise. Um die Frage, ob Israel es schafft, sich selbst neu zu definieren – jenseits verkrusteter Machtstrukturen und politischer Abhängigkeiten. Ob es den Mut hat, endlich gerechte Lösungen zu finden, die Jeschiwa-Studium und gesellschaftliche Verantwortung nicht als Gegensätze sehen. Und ob es gelingt, das Versprechen der Staatsgründung – ein jüdischer, demokratischer Staat für alle – ernsthaft einzulösen.
Vielleicht ist das jetzige Scheitern der Koalition die Chance auf einen Neuanfang. Vielleicht aber ist es nur das nächste Kapitel eines bitteren, lähmenden Zyklus. Doch klar ist: Es braucht mehr als nur neue Wahlen. Es braucht neue Prinzipien.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: GPO
Mittwoch, 16 Juli 2025