Von Lastwagen und Illusionen – Wie Israels Warenströme das Hamas-Tunnelreich mitfinanziertenVon Lastwagen und Illusionen – Wie Israels Warenströme das Hamas-Tunnelreich mitfinanzierten
Neue Daten belegen: Über Jahre flossen hunderttausende Tonnen Zement, Stahl und Schotter aus Israel nach Gaza – und wurden zu Fundamenten für Hamas’ Terrornetz. Unter dem Deckmantel „humanitärer Versorgung“ wuchs eine militärische Infrastruktur, die am 7. Oktober tödlich zuschlug.
Die nüchternen Zahlen lesen sich wie eine Statistik aus dem Wirtschaftsministerium – und doch erzählen sie eine Geschichte aus der Sicherheitsrealität Israels, die tiefer schmerzt als jede trockene Bilanz. Zwischen 2015 und 2023 rollten im Jahresdurchschnitt rund 117.000 Lastwagen mit Waren aus Israel in den Gazastreifen. Monat für Monat waren es rund 10.000 Fahrzeuge, die nicht nur Lebensmittel und Medikamente lieferten, sondern auch Material, das in den Händen von Hamas zum Kern seiner militärischen Infrastruktur wurde.
Das Ausmaß der Lieferungen
Laut den jetzt veröffentlichten Daten – erlangt durch eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz – umfassten die Lieferungen unter anderem 90.000 LKW-Ladungen Zement, 21.000 Stahltransporte, 11.000 Transporte mit Infrastrukturtechnik und ganze 382.000 mit Aggregaten – Schotter und Kies, essenziell für Bauarbeiten. Aggregat war sogar in einem Drittel aller Lieferungen enthalten. Man muss sich vor Augen führen: In Gaza existiert kein Zementwerk, keine Schwerindustrie, die solche Mengen selbst herstellen könnte. Der überwiegende Teil kam aus Israel – oder wurde über israelische Häfen und Grenzübergänge eingeführt.
Für Hamas war das ein strategischer Jackpot. Unterirdische Tunnelanlagen – kilometerlange Netze, tief genug, um Bombardierungen standzuhalten – verschlangen gewaltige Mengen an Beton, Stahl und Stützkonstruktionen. Der Zement, der offiziell für Schulen, Krankenhäuser und zivile Infrastruktur bestimmt war, verschwand oft in Bauprojekten, die niemals in den Büchern standen.
Der Mythos vom „totalen Gazaboykott“
In der internationalen Wahrnehmung galt Gaza als „abgeriegelt“. Bilder von Warteschlangen an Grenzübergängen, Berichte über Stromknappheit und Wasserprobleme prägten das Bild. Doch wie der Nahostexperte Jochanan Tzur vom INSS betont, war es „kein wirtschaftlicher Belagerungszustand“. Israel habe bewusst darauf geachtet, dass „sämtliche für die Bevölkerung notwendigen Güter“ in den Streifen gelangten – um humanitäre Katastrophen zu vermeiden.
Das Ziel war klar: humanitäre Versorgung ja, militärische Aufrüstung nein. Doch die Praxis zeigte, dass beides kaum zu trennen war. Hamas kontrollierte die Einfuhr, setzte Checkpoints hinter den offiziellen Grenzanlagen und kassierte Abgaben. Jedes Kilo Baumaterial, das in Gaza ankam, konnte theoretisch umgeleitet werden – und wurde es in der Praxis auch.
Wirtschaftliche Abhängigkeit als Sicherheitsstrategie
Die Politik dahinter war nicht neu. Schon seit Mitte der 2000er Jahre verfolgten israelische Regierungen die Linie „Ruhe gegen wirtschaftliche Erleichterungen“. Nach der Machtübernahme von Hamas 2007 und der darauffolgenden Blockadepolitik gab es immer wieder Phasen, in denen Israel die Einfuhr von Waren erleichterte, um Eskalationen zu verhindern. Katar pumpte parallel hunderte Millionen Dollar in den Gazastreifen – mit israelischer Zustimmung – in der Hoffnung, so eine gewisse Stabilität zu sichern.
2019 brachte Benny Gantz es in einem Wahlkampfauftritt auf den Punkt: „Schweigen gegen Geld – das ist Netanyahus Deal mit Hamas.“ Diese Kritik klang damals nach politischer Polemik. Heute wirkt sie wie eine nüchterne Diagnose.
Die zweite, weniger bekannte Handelsrichtung
Während große Mengen in den Gazastreifen gingen, gab es auch Warenverkehr in die andere Richtung. Die Zahlen sind kleiner, aber nicht unbedeutend: 2015 waren es rund 3.300 LKW aus Gaza nach Israel, bis 2022 stieg die Zahl auf 9.400. Über die Jahre importierte Israel aus Gaza 24.000 Tonnen Tomaten, 11.000 Tonnen Gurken, 7.000 Tonnen Auberginen, 5.600 Tonnen Erdbeeren, 700 Tonnen Fisch – dazu Möbel, Lederwaren, Textilien. Kuriositäten fehlten nicht: 19 Katzen für den Export in die USA, Lulav-Bündel für Sukkot, und sogar 26 Paletten Krembo.
Die stille Textil-Allianz
Für viele israelische Modefirmen war Gaza ein Produktionsstandort, der Preisvorteil und Schnelligkeit bot. Der Unternehmer Dan Elharar beschreibt, wie er mit Nähereien arbeitete, die 30 bis 50 Mitarbeiter beschäftigten. Komplexe Stücke wie Korsagen oder Hemden mit feinen Knopfleisten wurden dort gefertigt. Hamas wusste um diese Kooperationen – und ließ sie laufen, solange sie besteuert wurden. Diese wirtschaftliche Verflechtung war vielen in der Branche bewusst, in der Öffentlichkeit jedoch kaum Thema.
Der 7. Oktober beendete diese stillschweigende Koexistenz abrupt. Die Textilbranche brach ein, viele Läden mussten schließen. Elharar sagt heute: „Persönlich würde mir eine Öffnung helfen. National? Wir brauchen sie nicht – Hamas ist die Familie unserer Näher.“
Warum die Strategie scheiterte
Ökonomisch brachte der begrenzte Export aus Gaza weder Israel noch den Gazanern eine nachhaltige Stabilisierung. Politisch erwies sich die Hoffnung, Hamas könne durch wirtschaftliche Integration gezähmt werden, als Fehleinschätzung. Der Shin Bet stellte nach dem 7. Oktober fest, dass Hamas die Phase relativer Ruhe systematisch genutzt hatte, um ihre militärischen Kapazitäten auszubauen. Die Tunnelanlagen, die Waffenlager, die Kommandozentralen – sie waren nicht trotz, sondern durch die wirtschaftliche Öffnung möglich geworden.
Der Blick nach vorn
Experten wie Yitzhak Gal warnen: Soll der Wiederaufbau Gazas gelingen, müssten künftig 6.000 Lastwagen täglich die Grenze passieren – doppelt so viele wie vor dem Krieg. Aber ohne Regimewechsel werde jede Lieferung erneut in den Griff von Hamas geraten. Das bedeutete, in denselben Kreislauf zurückzufallen, der Israel bereits einmal teuer zu stehen kam.
Das ist die unbequeme Wahrheit: Israel hat versucht, mit wirtschaftlichen Mitteln Sicherheit zu kaufen – und am Ende einen Feind gestärkt, der diese Ressourcen gegen Israel einsetzte. Der Beton, der für Wohnhäuser gedacht war, stützte stattdessen Tunnelwände. Der Stahl, der Brücken tragen sollte, trug das Dach unterirdischer Bunker. Und die Schotterberge, die Straßen hätten befestigen sollen, wurden zur Tarnung von Angriffsrouten.
Wer künftig über den Wiederaufbau Gazas spricht, darf diese Lektion nicht verdrängen. Sonst rollt der nächste Lastwagen schon wieder in Richtung einer Katastrophe.
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Bild Quelle: Symbolbild
Donnerstag, 14 August 2025