„Tag des Stillstands“: Israel im Ausnahmezustand – Familien der Geiseln fordern ein Ende des Wartens„Tag des Stillstands“: Israel im Ausnahmezustand – Familien der Geiseln fordern ein Ende des Wartens
Israel hält inne. Straßen leeren sich, Ampeln blinken gelb, Familien versammeln sich schweigend an Kreuzungen. Es ist kein Feiertag, sondern ein Tag der Verzweiflung: eine ganze Nation fordert die Heimkehr ihrer Geiseln.
Wer am Morgen durch Jerusalem fuhr, sah ein Bild, das man sonst nur vom Gedenktag für die Gefallenen kennt: Autos hielten an, Menschen stiegen aus, standen still, manche mit geschlossenen Augen, andere mit erhobenen Schildern. Doch diesmal war es kein staatlich verordneter Moment, kein Ritual aus dem Kalender, sondern der Ausdruck einer tiefen, unaushaltbaren Sehnsucht. Israel stand still – weil es die Rückkehr seiner verschleppten Bürger verlangt.

Der sogenannte „Tag des Stillstands“ war kein spontaner Protest, sondern das Ergebnis wochenlanger Mobilisierung durch Angehörige der Geiseln. Sie hatten beschlossen, die Normalität im Land zu unterbrechen, um den Schmerz sichtbar zu machen, den viele längst nicht mehr ertragen. Denn die Gefangenschaft in den Tunneln der Hamas, im Dunkel von Gaza, ist längst nicht mehr nur das Leiden einzelner Familien – sie ist zum Trauma einer ganzen Nation geworden.
Der lange Schatten des 7. Oktober
Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hat Israel sein Gesicht verändert. Hunderte wurden verschleppt, Männer, Frauen, Kinder, Alte. Einige kamen frei, andere wurden tot zurückgebracht, zu viele bleiben verschollen. Inzwischen sind fast zwei Jahre vergangen, doch das Gefühl der Erstarrung ist geblieben. Israel kämpft militärisch, diplomatisch und politisch, doch der Knoten löst sich nicht: Hamas hält an den Geiseln fest, benutzt sie als menschliche Schutzschilde, als Verhandlungsmasse, als Waffe gegen die israelische Gesellschaft.
Jeder Tag, an dem eine Mutter nicht weiß, ob ihr Sohn noch lebt, jeder Tag, an dem ein kleines Mädchen irgendwo in der Finsternis ausharrt, ohne Schule, ohne Tageslicht, ohne die Stimme ihrer Eltern – jeder dieser Tage brennt sich in die israelische Seele.
Die Regierung versucht, Stärke zu zeigen. Sie will keinen faulen Kompromiss eingehen, der die Terroristen belohnt. Doch die Geduld der Bevölkerung ist endlich. Auf den Straßen spürt man, wie das Vertrauen zerfasert.
Die Familien im Zentrum
Auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv haben Angehörige der Geiseln ein Zeltlager errichtet. Es ist längst zu einem Wallfahrtsort geworden, einem Ort des stillen Schmerzes, aber auch der lautstarken Forderung. Fotos der Entführten hängen an Bannern, Kerzen brennen, Transparente fordern „Bringt sie nach Hause – jetzt!“.
Viele Israelis pilgern dorthin, um Anteil zu nehmen. Fremde Menschen umarmen einander, erzählen sich, was sie über „ihre“ Geisel wissen. In diesen Begegnungen wird deutlich, wie eng die Gesellschaft trotz aller Spaltungen zusammenrückt. Israel, das Land der ständigen Debatten und hitzigen Streitigkeiten, kennt Momente, in denen es eins wird. Die Geiselkrise ist ein solcher Moment.
Doch sie ist auch ein Moment der Anklage. Angehörige werfen der Regierung Untätigkeit vor, manche sprechen von Verrat. Sie fühlen sich alleingelassen, vertröstet, hingehalten.


Netanjahus Zwickmühle
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht unter immensem Druck. Einerseits verlangt das Volk die Rückkehr der Geiseln, andererseits will er nicht als jener Regierungschef in die Geschichte eingehen, der die Hamas aufwertete. Jede Entscheidung trägt ein doppeltes Risiko: zu hart zu erscheinen und das Leben der Gefangenen zu gefährden, oder zu weich zu wirken und Israels Abschreckungskraft zu untergraben.
Netanjahu kennt die Geschichte: 2011 ließ Israel den Soldaten Gilad Schalit frei, nach fünf Jahren in Hamas-Gefangenschaft. Der Preis: über tausend palästinensische Gefangene, darunter Terroristen mit Blut an den Händen. Viele dieser Freigelassenen nahmen später erneut an Anschlägen teil. Für viele Israelis ist das eine offene Wunde – und ein warnendes Beispiel.
Doch diesmal ist die Dimension größer. Es geht nicht um einen Soldaten, sondern um Dutzende Männer, Frauen und Kinder. Kann ein Staat wie Israel es sich leisten, zu sagen: Wir verzichten, weil der Preis zu hoch wäre? Oder darf er es sich gerade nicht leisten, weil er sonst seine moralische Grundlage verliert?
Die historische Dimension
Israel hat immer wieder Geiseln zurückgeholt – zu fast jedem Preis. Die Botschaft war klar: Kein Jude bleibt zurück. Dieses Prinzip ist Teil der kollektiven Identität. Schon in der Diaspora war es ein Gebot der Gemeinschaft, Gefangene freizukaufen.
Doch der Staat Israel ist nicht mehr nur eine Gemeinde, die überleben muss, sondern eine Nation, die Verantwortung für Millionen trägt. Hier entsteht der Konflikt: Wie viel darf man riskieren, um wenige zu retten? Und wie viel verliert man, wenn man es nicht tut?
Die Geiselfrage spaltet nicht nur Parteien, sondern auch Generationen. Ältere erinnern sich an die Jahre des Terrors, an Flugzeugentführungen und Gefangenaustausche. Jüngere sehen in den Gesichtern der verschleppten Kinder ihr eigenes Spiegelbild.
Internationale Dimension
Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, drängen auf eine Lösung. Präsident Donald Trump hat mehrfach betont, er werde Israel in jeder Lage unterstützen, gleichzeitig fordert er „klare Verhandlungen“. Auch europäische Staaten haben sich eingeschaltet – mal fordernd, mal belehrend.
Doch was bedeutet internationale Diplomatie, wenn die Hamas jedes Gespräch als Propagandasieg nutzt? Israel weiß, dass jede Verhandlung Bilder produziert, die in den arabischen Medien als Triumph dargestellt werden. Und doch bleibt keine Wahl: Ohne internationale Vermittler bewegt sich nichts.
Katar, Ägypten, manchmal die Türkei – sie alle spielen Doppelrollen, mal als Brückenbauer, mal als Anwälte der Hamas. Israel misstraut, doch Israel weiß auch: ohne sie wird es keine Rückkehr geben.
Gesellschaft am Limit
Der „Tag des Stillstands“ zeigt mehr als nur Trauer. Er zeigt eine Gesellschaft am Rand der Erschöpfung. Seit Jahren lebt Israel im Ausnahmezustand, seit Jahrzehnten im Konflikt. Doch selten war das Gefühl der Ohnmacht so stark wie jetzt.


Die Bürger sehen ihre Armee kämpfen, sehen Erfolge und Verluste, sehen internationale Isolation und mediale Verzerrung. Und sie fragen sich: Wenn wir nicht einmal unsere Kinder nach Hause holen können, wozu all die Opfer?
Dieser Gedanke ist gefährlich – nicht nur für das Selbstbild, sondern für den inneren Zusammenhalt. Israel ist ein Land, das aus dem Gefühl der Unverbrüchlichkeit lebt. Wird dieses Gefühl erschüttert, drohen Risse, die weit über die aktuelle Krise hinausreichen.
Der Blick nach vorn
Was bleibt also? Hoffnung, Forderung, Protest. Israel ist es gewohnt, durchzuhalten. Aber es ist auch ein Land, das weiß, wann es handeln muss. Der „Tag des Stillstands“ könnte ein Wendepunkt sein – nicht nur im Kampf um die Geiseln, sondern im Verhältnis zwischen Regierung und Volk.
Wenn Netanjahu einen Weg findet, die Gefangenen heimzubringen, wird er das Vertrauen zurückgewinnen. Wenn nicht, wird sein politisches Schicksal besiegelt sein.
Für die Familien jedoch geht es nicht um Politik. Für sie geht es um das Leben ihrer Liebsten, um jede Stunde, jeden Tag, jede Minute. Für sie ist der „Stillstand“ kein Symbol, sondern die einzige Sprache, die ihnen bleibt.
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Bild Quelle: Screenshot X
Sonntag, 17 August 2025