Zwischen Geiseln und Ideologie: Israels Kabinett ringt mit sich selbstZwischen Geiseln und Ideologie: Israels Kabinett ringt mit sich selbst
Während der Krieg gegen die Hamas andauert, geraten Israels Entscheidungsträger in offenen Streit: Soll man eine Teilvereinbarung zur Rettung von Geiseln wagen – oder auf einer Alles-oder-nichts-Lösung beharren?
Fast zwei Jahre nach dem schlimmsten Massaker an Juden seit der Schoa – dem 7. Oktober 2023 – befindet sich Israel noch immer in einem erbarmungslosen Krieg gegen die Hamas. Hunderte unschuldige Menschen wurden damals verschleppt, und noch immer warten 48 Geiseln, darunter zwanzig nachweislich lebend, in den Tunneln von Gaza auf Rettung. Doch im israelischen Sicherheitskabinett ist man tief gespalten, wie dieser Albtraum beendet werden kann.
Generalstabschef Herzi Halevi trat am Sonntag überraschend mit einem Appell an die Minister heran: Es liege ein konkretes Teilabkommen auf dem Tisch, sagte er, und Israel müsse die Chance nutzen. Operation „Merkavot Gidon“ habe Bedingungen geschaffen, die es erstmals ermöglichen könnten, mehrere Dutzend Geiseln zurückzuholen. Damit stellte sich der ranghöchste Offizier Israels gegen Teile der politischen Führung, die jede Teillösung als Schwäche betrachten.
Die Debatte wurde zur offenen Konfrontation. Ministerin Orit Struk attackierte Halevi scharf, nannte den Gedanken an ein Teilabkommen faktisch „Feigheit“ und zitierte aus den biblischen Quellen, wonach ein Mann mit schwachem Herzen die Reihen verlassen solle, um die anderen nicht zu verunsichern. Halevi ließ das nicht auf sich sitzen: „Ich treffe Entscheidungen, die stärker sind als jede andere zuvor. Wenn Sie blinden Gehorsam wollen – dann holen Sie jemand anders.“ Worte, die im Kabinett noch lange nachhallen dürften.
Premierminister Benjamin Netanyahu versuchte zu beschwichtigen. Einerseits wolle er keine „blinde Disziplin“, andererseits aber auch kein „Auseinanderbrechen der Leitlinien“. Damit machte er deutlich: Eine Teilvereinbarung über die Rückkehr von nur einem Teil der Geiseln steht aus Sicht der Regierung nicht auf der Tagesordnung.
Auch der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, drängte auf eine Abstimmung, die Israel kategorisch gegen ein Teilabkommen festgelegt hätte. Doch Netanyahu blockte ab: „Das steht nicht zur Debatte – keine Abstimmung nötig.“ Für die Familien der Geiseln, die seit fast zwei Jahren um das Leben ihrer Angehörigen bangen, war das ein bitteres Signal.
Die Auseinandersetzung spiegelt die ganze Zerrissenheit des Landes wider. Einerseits das militärische Ziel, die Hamas endgültig zu zerschlagen und ihre Fähigkeit zur Bedrohung Israels zu beenden. Andererseits das moralische Gebot, Menschenleben jetzt zu retten – auch wenn dies strategische Zugeständnisse erfordert. Die Hamas weiß um diese Spannung und instrumentalisiert die Geiseln seit Beginn des Krieges als Druckmittel.
Die israelische Regierung sieht sich zudem im internationalen Spannungsfeld. Washington macht deutlich, dass es ein Teilabkommen ohne klare Gesamtlösung nicht unterstützt. Israel fürchtet, durch einzelne Tauschgeschäfte seine militärische Handlungsfreiheit zu verlieren. Doch zugleich wächst im Land der Druck: Jede Woche ohne Entscheidung vertieft die Wunde des 7. Oktober, den viele Israelis mit Recht als das schwerste Trauma seit dem Holocaust begreifen.
Im Kabinett wurde auch eine ganz andere, nicht minder explosive Frage diskutiert: die mögliche Ausweitung israelischer Souveränität auf Teile von Judäa und Samaria, insbesondere das Jordantal. Manche Minister betrachten diesen Schritt als ideologisches Muss – ein Bekenntnis zum biblischen Kernland. Andere sehen darin eine gefährliche Ablenkung vom Kriegsziel, die internationale Legitimität weiter schwächen könnte.
So ringt Israel gleich auf zwei Ebenen: Im Kampf gegen die Hamas – und im Kampf um die richtige politische Richtung. Zwischen der Pflicht, die Geiseln heimzuholen, und dem Anspruch, keine Kompromisse mit dem Terror zu machen, droht die Einheit der Regierung selbst zum Faustpfand zu werden. Doch eines ist klar: Jeder Tag, an dem die Geiseln nicht zurückkehren, ist ein Tag, an dem die Narben des 7. Oktober tiefer in das kollektive Bewusstsein Israels eingebrannt werden.
Autor: Redaktion
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Montag, 01 September 2025