Jom Kippur 1973 – Der Tag, an dem Israels Existenz auf dem Spiel stand

Jom Kippur 1973 – Der Tag, an dem Israels Existenz auf dem Spiel stand


Am 6. Oktober 1973, dem heiligsten Tag des jüdischen Kalenders, griffen Ägypten und Syrien Israel an. Der Jom-Kippur-Krieg wurde zum Trauma einer Nation – und zur Lehre, die bis heute nachwirkt.

Jom Kippur 1973 – Der Tag, an dem Israels Existenz auf dem Spiel stand

Jom Kippur, der Versöhnungstag, ist für das jüdische Volk ein Tag der Einkehr, des Fastens und der Vergebung. Doch für Israel ist er zugleich ein Tag des Schmerzes, des Erinnerns und der Mahnung. Am 6. Oktober 1973, als Synagogen voller Gläubiger waren, als Straßen still und leer lagen, als ein ganzes Land sich in Gebet und Stille vertiefte, brach der Krieg los. Ägyptische und syrische Armeen eröffneten einen Angriff, der Israels Existenz bedrohte und die Grundfesten des Staates erschütterte.

Die Feinde hatten ihre Lektionen aus der Vergangenheit gelernt. Sechs Jahre zuvor hatte Israel im Sechs-Tage-Krieg große Siege errungen, den Sinai, die Golanhöhen und weitere Gebiete erobert. Viele in Israel wähnten sich damals unbesiegbar. Die arabischen Nachbarn jedoch wollten die Schmach nicht hinnehmen. Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat und Syriens Machthaber Hafiz al-Assad schmiedeten eine Allianz, um Israel in einem Moment der Schwäche anzugreifen. Sie wählten dafür den Zeitpunkt, an dem Israels Verteidigung am verletzlichsten war: Jom Kippur.

Am Nachmittag des 6. Oktober begann der Angriff. Ägyptische Truppen überquerten in Massen den Suez-Kanal, durchbrachen die stark befestigte Bar-Lev-Linie, die als nahezu uneinnehmbar galt. Innerhalb weniger Stunden standen sie tief im Sinai. Gleichzeitig rollten syrische Panzer über die Golanhöhen und bedrohten die israelische Verteidigungslinie nördlich des Sees Genezareth. Die Überraschung war vollkommen. In Israel dauerte es Stunden, bis die ersten Reservisten mobilisiert waren. Die Soldaten eilten direkt aus Synagogen und Familienhäusern an die Front.

Die ersten Tage waren von Verzweiflung geprägt. Die ägyptischen Armeen nutzten modernste sowjetische Waffensysteme, darunter tödliche Flugabwehrraketen und Panzerabwehrwaffen, die israelischen Panzern schwer zusetzten. Auf dem Golan drohten syrische Divisionen, die strategisch wichtigen Höhen zu überrennen und den Weg nach Norden freizumachen. Israelische Einheiten kämpften bis an die Grenze ihrer Kräfte. Manche Kompanien verloren drei Viertel ihrer Soldaten, viele Panzerkommandeure starben, weil sie trotz Übermacht standhielten, um Zeit zu gewinnen.

Doch Israel bewies, dass es auch im Angesicht größter Gefahr nicht zerbricht. Innerhalb weniger Tage begann eine Mobilmachung, wie sie die Welt selten gesehen hatte. Reservisten aus allen Landesteilen strömten an die Front. Werkstätten reparierten unter Hochdruck beschädigte Panzer. Luftwaffe und Bodentruppen lernten, sich den neuen Waffen der Gegner anzupassen. Auf dem Golan gelang es israelischen Panzerbrigaden schließlich, die syrische Offensive zu stoppen und die Angreifer zurückzuschlagen. Innerhalb einer Woche standen israelische Truppen wieder tief auf syrischem Gebiet, nur wenige Dutzend Kilometer vor Damaskus.

Im Süden wendete sich das Blatt durch eine waghalsige Operation: Israelische Truppen unter General Ariel Scharon überquerten selbst den Suez-Kanal, umgingen ägyptische Stellungen und schnitten Teile der dritten ägyptischen Armee ab. Diese Umkehr vom Verteidiger zum Angreifer veränderte die Dynamik. Doch der Preis war immens: Tausende junge Israelis verloren ihr Leben, ganze Einheiten wurden ausgelöscht, Familien stürzten ins Unglück.

Als der Waffenstillstand Ende Oktober in Kraft trat, hatte Israel militärisch gesiegt – doch moralisch und psychologisch war der Preis bitter. 2.691 gefallene Soldaten, mehr als 7.000 Verwundete, hunderte Gefangene. Fast jede Familie war betroffen, in jedem Kibbuz, in jedem Dorf gab es Trauernde. Die Euphorie und das Gefühl der Unverwundbarkeit nach 1967 waren zerstört. Zurück blieben Demut, Trauer und das Bewusstsein, dass die Existenz Israels niemals selbstverständlich ist.

Politisch führte der Krieg zu tiefen Verwerfungen. Das Vertrauen in die Regierung brach zusammen. Premierministerin Golda Meir und Verteidigungsminister Mosche Dayan gerieten in massive Kritik. Der Schock über das Versagen des Geheimdienstes, der die Angriffspläne trotz klarer Hinweise unterschätzt hatte, führte zu einer der größten Vertrauenskrisen in Israels Geschichte. Eine Untersuchungskommission legte schonungslos offen, wie gefährlich Selbstsicherheit ist.

Doch aus dieser Krise erwuchs auch Stärke. Israel modernisierte seine Armee, baute seine Geheimdienste um, entwickelte neue Systeme der Vorwarnung und Luftabwehr. Vor allem aber wuchs das Bewusstsein, dass Krieg nicht allein durch Waffen verhindert wird, sondern auch durch Diplomatie. Nur wenige Jahre später unterzeichnete Israel mit Ägypten den ersten Friedensvertrag mit einem arabischen Nachbarn. Der Sinai wurde zurückgegeben, aber der Frieden hielt – und er hält bis heute.

Für die jüdische Welt insgesamt hatte der Jom-Kippur-Krieg eine doppelte Bedeutung. Juden in der Diaspora bangten um Israel wie nie zuvor. Gemeinden in Europa und Amerika sammelten Geld, Hilfsgüter, Blutspenden. Synagogen waren erfüllt von Solidarität, aber auch von Angst. Jeder wusste: Wenn Israel fällt, trifft es das gesamte jüdische Volk. Diese Verbundenheit hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt.

Heute, 52 Jahre später, ist der Jom-Kippur-Krieg mehr als ein Kapitel im Geschichtsbuch. Er ist eine Mahnung an Israel, immer wachsam zu bleiben. Er ist ein Symbol für die Verwundbarkeit, aber auch für die unglaubliche Widerstandskraft des jüdischen Staates. Wer an Jom Kippur fastet, betet oder einfach innehält, erinnert sich nicht nur an die spirituelle Bedeutung des Tages. Er erinnert sich auch daran, dass an diesem Tag einmal die Existenz Israels auf dem Spiel stand – und dass Israel überlebte, weil sein Volk nicht bereit war, unterzugehen.

Die Erinnerung bleibt lebendig. In den Geschichten der Veteranen, die von Kameraden erzählen, die fielen. In den Familien, die ihre Trauer bis heute tragen. In den nationalen Gedenkfeiern, die jedes Jahr stattfinden. Und in der Lehre, die Israel nie wieder vergessen darf: Sicherheit ist niemals selbstverständlich, nicht an gewöhnlichen Tagen und erst recht nicht am heiligsten Tag des Jahres.

Jom Kippur ist für Juden weltweit ein Tag der Einkehr, aber für Israel ist er auch ein Tag der Erinnerung und der Mahnung. 1973 zeigte sich, wie gefährlich Illusionen sind und wie hoch der Preis für Nachlässigkeit sein kann. Doch ebenso zeigte sich, wie stark ein Volk sein kann, wenn es zusammensteht. Diese Wahrheit gilt damals wie heute.


Autor: Redaktion
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Donnerstag, 02 Oktober 2025

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