Jerusalem steht still – Der Tag, an dem Israels Geduld auf die Probe gestellt wird

Jerusalem steht still – Der Tag, an dem Israels Geduld auf die Probe gestellt wird


Straßen gesperrt, Bahnhöfe geschlossen, das Land im Ausnahmezustand: Tausende ultraorthodoxe Juden ziehen heute gegen das Wehrdienstgesetz auf die Straßen.

Jerusalem steht still – Der Tag, an dem Israels Geduld auf die Probe gestellt wird

Jerusalem ist heute keine Stadt, sondern ein Symbol. Seit Mittag ist die Zufahrt aus allen Richtungen blockiert, Züge stehen still, Busse stauen sich an Kontrollpunkten. Die Polizei spricht von „massiven Einschränkungen“, und tatsächlich gleicht das Zentrum der Hauptstadt einem Belagerungszustand. Der Grund: ein Massenprotest der ultraorthodoxen Gemeinschaft gegen das neue Wehrdienstgesetz, das die jahrzehntelange Sonderstellung der Haredim beenden soll.

Was als Demonstration angekündigt wurde, ist längst zur Machtprobe geworden. Über 2.000 Polizisten sind im Einsatz, um Ordnung zu bewahren, während Rabbiner und Parteifunktionäre die Menge anheizen. Ihre Botschaft: Die Tora stehe über dem Staat, das Studium über der Armee. Für den Rest Israels ist diese Botschaft kaum noch zu ertragen.

Eine alte Wunde reißt wieder auf

Die Wehrpflichtfrage begleitet Israel seit seiner Gründung. Schon David Ben-Gurion hatte den Ultraorthodoxen in den 1950er-Jahren eine Sonderregelung eingeräumt – als symbolische Geste gegenüber einer kleinen, kriegsversehrten Minderheit. Doch aus der Ausnahme wurde ein System. Heute zählt die haredische Bevölkerung fast 15 Prozent des Landes, mit einer Geburtenrate, die doppelt so hoch ist wie die des übrigen Israels.

Während junge Frauen und Männer aus Tel Aviv, Haifa oder Be’er Scheva an der Front stehen, bleibt die Mehrheit der Haredim in den Jeschiwot – finanziert vom Staat, geschützt durch politische Abkommen. Es ist ein Privileg, das in Kriegszeiten wie diesen kaum jemand mehr akzeptieren will.

Die Regierung am Scheideweg

Benjamin Netanjahu steht zwischen zwei Fronten: den religiösen Koalitionspartnern, die seine Mehrheit sichern, und der breiten Öffentlichkeit, die eine Gleichbehandlung fordert. Nach Monaten stiller Verhandlungen, gerichtlicher Ultimaten und wachsendem Druck durch die Armee selbst, brachte das Verteidigungsministerium nun ein neues Gesetz auf den Weg. Es verpflichtet auch ultraorthodoxe Männer grundsätzlich zur Einberufung – mit gewissen Übergangsfristen, aber ohne Rückkehr zum alten Status quo.

Für viele in der haredischen Welt ist das ein Affront. Sie sehen darin einen Angriff auf ihre Lebensweise, eine Säkularisierung des Glaubens, einen Versuch, den religiösen Kern Israels zu brechen. Doch für die Mehrheit des Landes ist das Gegenteil der Fall: Das Gesetz gilt als notwendiger Schritt, um das Gleichgewicht zwischen Pflicht und Privileg wiederherzustellen.

Jerusalem im Ausnahmezustand

Seit den Morgenstunden sind zentrale Verkehrsadern rund um Jerusalem blockiert. Route 1, die wichtigste Verbindung zwischen Tel Aviv und der Hauptstadt, wurde in beiden Richtungen gesperrt. Auch die Zufahrten über die Autobahnen 16, 443 und 44 sind überlastet. Die Polizei rät, die Stadt zu meiden.

Die Bahngesellschaft schloss die Station „Yitzhak Navon“ im Zentrum Jerusalems, Züge enden in Modi’in. Innerhalb der Stadt sind Straßen wie die Givat-Shaul-Route, Teile der Jaffastraße und die Herzl-Boulevard-Achse komplett gesperrt. Tausende Polizisten sichern Kreuzungen, überwachen den Verkehr aus der Luft, versuchen Eskalationen zu verhindern.

Trotzdem drängen Zehntausende auf die Straßen, viele mit Transparenten gegen das „zionistische Diktat“, andere in stiller Solidarität mit den Rabbinern, die zum Protest aufgerufen haben. Die Bilder aus der Luft zeigen ein Land, das zugleich diszipliniert und tief gespalten ist.

Die Armee als Prüfstein der Solidarität

Kaum eine Institution verkörpert Israels Identität so sehr wie die Armee. Sie ist nicht nur Verteidigungskraft, sondern sozialer Kitt – der Ort, an dem junge Menschen aller Schichten aufeinandertreffen, Verantwortung übernehmen und lernen, dass Staatlichkeit Opfer bedeutet.

Die Haredim dagegen verstehen ihren Dienst an Gott als gleichwertig – oder gar höherwertig – als den Dienst an der Waffe. Diese Haltung spaltet Israel tiefer als jede politische Partei. Während an der Front im Süden Reservisten ihr Leben riskieren, wird in Jerusalem um Privilegien gestritten.

Viele Israelis empfinden das als Verrat an der gemeinsamen Verantwortung. Denn wer vom Staat lebt, aber sich weigert, ihn zu verteidigen, stellt dessen Fundament infrage.

Die heutigen Proteste sind mehr als ein Straßenchaos. Sie sind ein Warnsignal, dass Israels innere Spannungen längst sicherheitspolitische Dimensionen erreicht haben. Wenn Zehntausende ihre Loyalität zur Tora über ihre Loyalität zum Staat stellen, steht mehr auf dem Spiel als Verkehrsordnung. Es geht um den Charakter Israels selbst.

Das Land, das seit seiner Gründung für das Überleben kämpft, kann sich keine dauerhafte Teilung seiner Bürgerschaft leisten – in Soldaten und Ausnahmen, in Opfernde und Profitierende.

Zwischen Religion und Staat

Die religiösen Führer der Haredim behaupten, das Gesetz bedrohe die spirituelle Existenz Israels. Doch genau das Gegenteil ist richtig: Ohne Gleichheit vor dem Gesetz verliert der Staat seine moralische Autorität. Und ohne gemeinsame Pflicht verliert er seine Seele.

Niemand verlangt von einem Gläubigen, den Glauben aufzugeben. Aber der Schutz des Lebens – pikuach nefesh – steht im Judentum über allem. Wer sich der Verteidigung des Landes verweigert, während andere dafür sterben, entheiligt diesen Grundsatz.

Der Versuch der Regierung, Ordnung in dieses Ungleichgewicht zu bringen, ist kein Angriff auf die Religion – er ist die Verteidigung der Gemeinschaft.

Der Tag danach

Am Ende dieses Tages wird die Sonne über einer Stadt unter Polizeibelagerung untergehen. Die Züge werden wieder fahren, die Straßen wieder öffnen. Doch die Wunde bleibt. Israel steht vor einer moralischen Entscheidung, die keine Regierung ewig hinauszögern kann: Gleiche Rechte – gleiche Pflichten.

Die Geduld der Öffentlichkeit ist endlich. Die Armee braucht Soldaten, nicht Ausreden. Und die Gesellschaft braucht Zusammenhalt, nicht Privilegien.

Wer die Einheit Israels bewahren will, darf sie nicht an der Tora zerbrechen lassen – sondern muss sie durch Verantwortung heiligen.


Autor: Redaktion
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Donnerstag, 30 Oktober 2025

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