Wie überlebten die Kämpfer in Rafah — und was wird Israel nun tun?Wie überlebten die Kämpfer in Rafah — und was wird Israel nun tun? 
Seit Monaten isoliert und offenbar abgeschnitten überdauerten Dutzende Kämpfer in einem unterirdischen „Widerstands-Kern“ in Rafah. Jerusalem steht nun vor einer harten Entscheidung: Ausschalten und Risiko eingehen — oder Freilassung erlauben und das Vertrauen in die Waffenruhe aufs Spiel setzen.
  Die israelische Führung ringt mit einer Frage, die alle strategischen und moralischen Dilemmata der vergangenen zwei Jahre bündelt: Wie begegnet man Dutzenden Angehörigen einer Terrororganisation, die in einem isolierten Tunnelsystem in Rafah überlebt haben, obwohl die Region faktisch unter israelischer Kontrolle steht? Seit dem Beginn der Waffenruhe — deren Einhaltung für die Familien Vermisster und für die Soldaten an der Front von existenzieller Bedeutung ist — fielen mehrere Gefallene in genau jenem Raum. Sicherheitskreise in Jerusalem sprechen von einem „hartnäckigen Kern“, dessen Existenz am Ende nicht nur militärische, sondern auch politische Konsequenzen fordert.
Die Fakten, soweit sie derzeit bekannt sind, sind beunruhigend klar: In Rafah wurde offenbar ein zusammenhängendes „Kissen“ von Kämpfern festgestellt, teils in unterirdischen Anlagen verschanzt. Manche Berichte sprechen von bis zu zweihundert Personen; israelische Geheimdienste gehen von deutlich geringeren, aber dennoch signifikanten Zahlen aus. Die Operationskontrolle über das Gebiet lag schon länger bei israelischen Kräften — damit wächst die Frage, wie diese Personen langfristig unentdeckt überleben konnten. Die Antwort liegt in einer Mischung aus unterirdischer Infrastruktur, Täuschungsmanövern und der Schwierigkeit, Tunnelkomplexe vollständig zu kartographieren, zu überwachen und zu zerstören, ohne eigene Verluste zu riskieren.
Zwei Wege, beide mit hohen Kosten
Vor Israel liegen faktisch zwei Wege — und keiner ist ohne Risiken: Der erste ist militärisch und endgültig: die gezielte Eliminierung der Eingeschlossenen. Militärs bekräftigen, dass ein solches Vorgehen die unmittelbare Gefahr beendet, die von einem organisierten, bewaffneten Kern ausgeht. Es würde die Möglichkeit verringern, dass weitere Zwischenfälle die fragile Waffenruhe zerstören. Doch dieser Weg ist teuer: Gefährdung von Einsatzkräften, mögliche zivile Kollateralschäden und vor allem die politische Last, die ein neuer blutiger Zwischenfall nach sich ziehen würde.
Der andere Weg ist politisch und risikobehaftet: die kontrollierte Rückkehr der Kämpfer in unbewaffnetem Zustand. Washington drängt darauf, weil es eine Eskalation vermeiden will, die die ganze Vereinbarung bedrohen könnte. Der Vorteil dieses Pfades ist klar: kurzfristig sinkt die unmittelbare Gefahr für Soldaten, und es eröffnet sich die Möglichkeit, Tunnel später systematisch und mit technischer Überlegenheit zu räumen. Der Nachteil ist allerdings fundamental: Jede Freilassung könnte von Hamas als taktischer Erfolg verkauft und als Gelegenheit zur späteren Reorganisation missbraucht. Sicherheitskreise in Jerusalem sehen in diesem Vorschlag einen möglichen Trick, Zeit zu gewinnen und die Entwaffnung der Organisation zu verzögern.
Beide Optionen bergen zudem moralische Dimensionen: Auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse der Familien, die hoffen, noch mehr Vermisste zu finden oder Gebeine würdevoll zu bergen. Auf der anderen Seite steht die Pflicht, künftige Angriffe und Terrorhandlungen zu verhindern. Israel steht damit vor einem klassischen Dilemma: kurzfristiger humanitärer Gewinn versus langfristige Sicherheit.
Die US-Position ist pragmatisch, aber nicht bedingungslos: Washington fordert Garantien, Überwachung und einen klaren Mechanismus, der Missbrauch unmöglich macht. Doch wer soll diese Überwachung vor Ort zuverlässig durchsetzen, wenn die lokale Machtteilung fragmentiert bleibt und Hamas trotz ihrer Schwächung weiterhin über solche Strukturen verfügt? Internationale Vermittler mögen Aufsicht leisten, doch Kontrolle bleibt in der Praxis schwierig.
In Jerusalem wächst die Skepsis, dass Hamas die Verhandlungen instrumentalisiert: Statt ihre Strukturen konsequent aufzugeben, könnte die Gruppe auf Zeit spielen, um Teile ihrer Infrastruktur zu schonen. Diese Einschätzung fußt auf Erfahrung: Frühere Abkommen wurden wiederholt taktisch genutzt, um Kräfte zu regenerieren. Dennoch ist die politische Realität auch eine andere: Jeder erneute Ausbruch von Gewalt würde die öffentliche Stimmung stark belasten, Soldatenleben gefährden und die internationale Bereitschaft, Israel zu stützen, auf die Probe stellen.
Die richtige Antwort verlangt daher Fingerspitzengefühl, Härte und zugleich strategische Weitsicht. Israel kann nicht nur in kurzfristigen Kategorien denken; es muss aber auch das unmittelbare Wohl seiner Soldaten und das Schicksal der Vermisstenfamilien berücksichtigen. Eine mögliche Kombination aus kontrollierter Übergabe unter internationaler Kontrolle, verbunden mit sofortigen und überprüfbaren Maßnahmen zur Kartierung und Zerstörung der Tunnelanlagen — flankiert von harten Sanktionen gegen Verstöße — könnte ein Kompromiss sein. Doch ohne verlässliche, sichtbare Garantien von Vermittlern wäre jede Freigabe ein unkalkulierbares Risiko.
Wenn Jerusalem entscheidet, dann wird diese Entscheidung weit über Rafah hinaus signalpolitische Wirkung entfalten: Sie wird zeigen, wie sehr der Staat bereit ist, Prioritäten zu setzen — zwischen dem Schutz der eigenen Kräfte, der moralischen Pflicht gegenüber Vermissten und der langfristigen Aufgabe, die militärischen Kapazitäten der Terrororganisation endgültig zu neutralisieren.
          
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Symbolbild
Dienstag, 04 November 2025