„Der Tag, der niemals hätte passieren dürfen“ – Israels Armee legt schonungslosen Bericht zu den Versäumnissen vom 7. Oktober vor„Der Tag, der niemals hätte passieren dürfen“ – Israels Armee legt schonungslosen Bericht zu den Versäumnissen vom 7. Oktober vor
Der Untersuchungsbericht deckt auf, was viele längst ahnten: Der Terrorangriff der Hamas hätte verhindert werden können. Israels Armee benennt sechs zentrale Fehler – von der Fehleinschätzung des Feindes bis zur Blindheit der Nachrichtendienste. Doch personelle Konsequenzen bleiben aus.
Israel blickt in den Abgrund der eigenen Schwäche. Mehr als ein Jahr nach dem Massaker vom 7. Oktober hat die israelische Armee ihren umfassendsten internen Untersuchungsbericht vorgestellt – den sogenannten „Turgeman-Bericht“, benannt nach General a.D. Sami Turgeman, der das externe Untersuchungsteam leitete. Der Bericht, der monatelang vorbereitet wurde, ist das härteste Selbstzeugnis, das die Streitkräfte seit Jahrzehnten veröffentlicht haben.
Er kommt zu einer eindeutigen Schlussfolgerung: Der 7. Oktober war vermeidbar. Die Hamas nutzte Israels innere Spaltung, institutionelle Routine und ein gefährlich verzerrtes Lagebild – und schlug zu, als die Verteidigung im Tiefschlaf lag.
Sechs Hauptursachen eines historischen Versagens
Das Untersuchungsteam identifizierte sechs strukturelle Fehler, die das schlimmste Massaker an Juden seit der Schoah ermöglichten:
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Ein strategisches Versagen der Wahrnehmung: Die politische und militärische Führung unterschätzte die reale Bedrohung aus Gaza fundamental. Hamas wurde fälschlich als „rationaler Akteur“ gesehen, der an Stabilität interessiert sei.
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Ein totaler Geheimdienstfehler: Der militärische Nachrichtendienst (AMAN) versagte sowohl in der Analyse als auch bei der Warnung. Die über Monate gesammelten Daten wurden falsch interpretiert oder ignoriert.
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Das Vergessen von „Jericho Wall“: Eine detaillierte Einsatzplanung für einen Überraschungskrieg lag vor, wurde aber nie geübt oder umgesetzt.
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Eine verkrustete militärische Kultur: Über Jahre gewachsene Routinen und Selbstzufriedenheit führten zu systemischer Trägheit.
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Fehlerhafte operative Prioritäten: Zwischen der angenommenen Bedrohung und den tatsächlichen Einsatzplänen klaffte eine gefährliche Lücke.
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Ein katastrophaler Entscheidungsprozess in der Nacht des 6. Oktober: In den kritischen Stunden vor dem Angriff wurde keine einzige bedeutsame Schutzmaßnahme ergriffen.
Der Bericht beschreibt ein fast unvorstellbares Szenario: Während Hamas in der Nacht mobilisierte, blieb Israels Armee im Normalbetrieb. Weder erhöhte jemand den Alarmstatus, noch analysierte jemand die ungewöhnlichen Bewegungen an der Grenze. „Keine einzige signifikante Maßnahme wurde in den entscheidenden Stunden eingeleitet“, heißt es im Bericht wörtlich.
Blindheit, Ignoranz – und verlorene Wachsamkeit
Der Bericht belegt, dass Israels Nachrichtendienst jahrelang blind gegenüber der Aufrüstung der Hamas war. Weder die wachsende militärische Infrastruktur noch die massiven Übungen entlang des Grenzzauns wurden als konkrete Kriegsabsicht erkannt. Warnungen von Beobachterinnen, die wiederholt verdächtige Aktivitäten meldeten, seien abgetan worden.
Auch die operative Führung habe versagt. Der Operationsstab habe die Ergebnisse aus der Nachkriegsanalyse von 2021 („Operation Wächter der Mauern“) schlicht ignoriert. Selbst die Luftwaffe und Marine – traditionell Israels präziseste Waffengattungen – seien am Morgen des Angriffs „nicht einsatzbereit“ gewesen. Der Himmel über Israel war ungeschützt, die Küsten ohne Verteidigung.
Die Nacht der Blindheit
Besonders gravierend beschreibt der Bericht die letzten Stunden vor der Katastrophe. Mehrere unklare Informationen – elektronische Störungen, Drohnenbewegungen, verschlüsselte Funksignale – wurden registriert, aber nicht zusammengeführt. Es fehlte ein zentraler Verantwortlicher, der diese Hinweise hätte verknüpfen und Alarm auslösen können.
General Turgeman formulierte es nüchtern: „Die Bedrohung war bekannt, die Warnzeichen waren sichtbar, doch niemand zog die Linie zwischen ihnen.“
Mut im Angesicht des Versagens
Neben der Kritik würdigt der Bericht den Mut vieler Einzelner: Kommandanten, die ohne Befehl an die Front eilten, um Dörfer zu verteidigen; Beobachterinnen, die bis zuletzt Berichte übermittelten; und Zivilisten, die als Teil der Bereitschaftstrupps Terroristen mit bloßen Händen aufhielten. Ohne ihren Einsatz, heißt es, „wäre das Blutbad noch größer gewesen“.
Keine persönlichen Konsequenzen
Trotz der Schwere der Ergebnisse nennt der Bericht keine persönlichen Konsequenzen für hochrangige Offiziere. Das sorgt für Unmut – auch in der Öffentlichkeit. Viele Familien der Opfer fordern Verantwortung, nicht nur Analyse.
Der neue Generalstabschef Eyal Zamir, der den Bericht entgegenahm, versprach Transparenz: „Wir müssen dem Versagen ins Auge sehen. Nur so können wir das Vertrauen der Gesellschaft zurückgewinnen.“ Er forderte zudem die Einsetzung einer systemischen Untersuchungskommission, die über das Militär hinaus auch politische und zivile Ebenen prüft – eine Forderung, die in Israel heftig diskutiert wird.
Das gebrochene Versprechen „Nie wieder“
Am 7. Oktober 2023 wurden 1.179 Menschen – Israelis und Ausländer – brutal ermordet. 251 wurden verschleppt. Für viele Israelis steht dieses Datum symbolisch für das Ende einer Illusion: die Illusion der absoluten Sicherheit.
Der Bericht benennt nicht nur technische Mängel, sondern auch ein gesellschaftliches Symptom: Die Hamas, so heißt es, „erkannte die wachsende innere Spaltung Israels und interpretierte sie als Schwäche“. Der Feind griff nicht nur die Grenze an – er griff das Vertrauen eines Landes in seine eigene Wehrhaftigkeit an.
Nun liegt es an der Armee und der politischen Führung, aus dieser Nacht des Versagens eine neue Kultur der Wachsamkeit zu formen. Ob das gelingt, bleibt offen.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Verteidigungsministerium Israel
Dienstag, 11 November 2025