Über 2.000 Jahre Haft: Erdogans gefährlichster Rivale vor dem politischen UntergangÜber 2.000 Jahre Haft: Erdogans gefährlichster Rivale vor dem politischen Untergang
In der Türkei wurde ein monströses Strafverfahren gegen den abgesetzten Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu eröffnet. Es ist der härteste Schlag, den Präsident Erdoğan seinem größten Gegner je versetzt hat – und er droht, das Land erneut in eine politische und wirtschaftliche Krise zu stürzen.
Ein 3.900 Seiten langer Anklageschriftsatz, 402 Mitangeklagte, ein geforderter Strafrahmen von bis zu 2.352 Jahren Haft: Die türkische Staatsanwaltschaft hat am Dienstag ein Verfahren eröffnet, das in seiner Dimension grotesk erscheint – und doch in das System Erdoğan passt. Im Zentrum steht Ekrem İmamoğlu, der ehemalige Bürgermeister von Istanbul, Symbolfigur der Opposition und Hoffnungsträger für die Präsidentschaftswahl 2028. Nun soll er, so die Anklage, der „Gründer und Kopf einer kriminellen Organisation“ sein.
Die politische Sprengkraft der Anklage
Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Seit Monaten verschärft Ankara den Druck auf Oppositionelle, Journalisten und Lokalpolitiker. Doch der Fall İmamoğlu ist mehr als nur ein weiteres Verfahren – er ist ein direkter Angriff auf die politische Alternative zu Erdoğan. Der Bürgermeister war bereits im März abgesetzt und unter Hausarrest gestellt worden, nachdem ihm Korruption, Spionage und Kontakte zur kurdischen Untergrundorganisation PKK vorgeworfen worden waren. Jetzt erweitert die Staatsanwaltschaft den Katalog: Bestechung, Amtsmissbrauch, Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Laut Anklage soll İmamoğlu in seiner Amtszeit in Istanbul öffentliche Aufträge gegen Schmiergeld vergeben haben. Seine Verteidigung weist alle Vorwürfe zurück und spricht von einer „politischen Hinrichtung“. Schon früher hatte İmamoğlu erklärt, die Verfahren dienten einzig dazu, seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl zu verhindern.
Wirtschaft im freien Fall
Die Nachricht über die Anklage ließ die Börse in Istanbul kollabieren. Der Leitindex stürzte um mehr als 3 Prozent ab, die türkische Lira verlor erneut deutlich an Wert. Der Zentralbank blieb nichts anderes übrig, als erneut Milliarden Dollar aus den Devisenreserven zu verkaufen, um den Absturz der Landeswährung zu bremsen.
Diese wirtschaftliche Erschütterung ist kein Nebeneffekt – sie zeigt, wie eng politische Willkür und ökonomische Instabilität in der Türkei inzwischen verbunden sind. Investoren verlieren das Vertrauen, die Kapitalflucht nimmt zu, während die Inflation weiter zweistellig bleibt.
Die lange Schatten von 2019
İmamoğlu wurde 2019 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt – gegen alle Erwartungen, gegen das Machtgefüge der AKP, gegen Erdoğan selbst, der seine politische Karriere einst an genau diesem Amt begonnen hatte. Der Sieg der Opposition galt damals als historisch. Seit jenem Moment ist der Mann aus Trabzon der gefährlichste Gegner des Präsidenten.
Die Regierung hat seither nichts unversucht gelassen, ihn zu schwächen. Erst wurde ihm sein akademischer Titel aberkannt – eine Voraussetzung, um überhaupt für das Präsidentenamt zu kandidieren. Dann folgten Ermittlungen wegen „Beleidigung staatlicher Institutionen“, später der Vorwurf der Spionage. Nun steht er als angeblicher „Bandenchef“ vor Gericht.
Internationale Kritik und wachsende Proteste
Seit İmamoğlus Verhaftung im März reißen internationale Proteste nicht ab. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter der OSZE sprechen von einem „politisch motivierten Justizapparat“, der jegliche Opposition systematisch ausschalte. In zahlreichen Städten kam es zu Demonstrationen, bei denen Zehntausende seine Freilassung forderten.
Das Bild, das sich nun abzeichnet, ist das einer Türkei, in der Justiz und Regierung kaum noch voneinander zu trennen sind. Wer Macht in Frage stellt, wird kriminalisiert. Die Anklage gegen İmamoğlu ist in dieser Logik kein Ausreißer, sondern die Vollendung eines autoritären Prozesses, der längst Alltag geworden ist.
Der Preis der Einschüchterung
Erdogan geht aufs Ganze. Die Botschaft an die Opposition ist klar: Niemand ist unantastbar. Doch je härter der Druck, desto größer die Empörung – nicht nur im Westen, sondern auch in der Türkei selbst. Viele Bürger sehen in İmamoğlu nicht den korrupten Politiker, sondern das Opfer eines Systems, das keine Konkurrenz duldet.
Der Präsident mag mit juristischen Mitteln versuchen, seine Macht zu sichern. Doch der Preis ist hoch: eine Gesellschaft, die in Angst und Zynismus erstarrt, eine Wirtschaft am Rande des Kollapses und eine internationale Isolation, die selbst Erdoğans einstige Verbündete zunehmend irritiert.
Ein Land, das sich als Demokratie versteht, kann auf Dauer nicht bestehen, wenn politische Gegner mit tausend Jahren Haft bedroht werden. Die Anklage gegen Ekrem İmamoğlu ist daher mehr als ein Justizfall – sie ist ein Spiegelbild der türkischen Gegenwart, in der Recht zur Waffe und Politik zur Verfolgung geworden ist.
Autor: Redaktion
Bild Quelle:
Mittwoch, 12 November 2025