Gaza nach der Waffenruhe: Zwischen Stillstand, Angst und den Rückkehrphantasien der HamasGaza nach der Waffenruhe: Zwischen Stillstand, Angst und den Rückkehrphantasien der Hamas
Ein Monat nach dem Ende der Kämpfe zeigt sich ein Bild, das kaum jemand im Westen wahrhaben will: Die Lage in Gaza ist nicht beruhigt, sondern eingefroren. Hilfe kommt an – doch die Menschen bleiben ohne Perspektive, während die Hamas erneut versucht, in das Machtvakuum hineinzuwachsen.
Wer heute in die Ruinenlandschaften des nördlichen Gazastreifens blickt, versteht rasch, warum die israelische Seite die Waffenruhe nicht als politischen Wendepunkt beschreibt. Sie ist keine Lösung, sondern eine fragile Pause inmitten einer ungelösten Realität. Zwar rollen Hilfslieferungen nach festen Quoten in das Gebiet, die Märkte sind gefüllt, und punktuell entstehen sogar neue Geschäfte. Doch der äußere Anschein täuscht. Gespräche mit Bewohnern, die trotz Angst vor Repressalien offen sprechen, zeichnen ein deutlich anderes Bild: Die Zerstörung ist gewaltig, der Wiederaufbau kommt nicht voran, und der Einfluss der Hamas wächst wieder – schneller und brutaler, als viele erwartet hatten.
Israelische Stellen kontrollieren weiterhin weite Bereiche der Zone, teils sichtbar, teils über militärische Präsenz in definierbaren Sicherheitssektoren. Für die Bevölkerung heißt das: Es gibt Ruhe vor Artillerie und Luftangriffen, aber keine stabile Ordnung. Die bisherigen Verwaltungen liegen brach, die Infrastruktur im Norden ist nahezu vollständig kollabiert, und viele Familien leben seit Monaten in Zelten, die sie kaum noch als provisorisch empfinden – eher als die neue Norm.
Zwischenüberschrift 1: Stimmen aus einem Ort ohne Orientierung
Viele Bewohner beschreiben, dass sie zurück in ihre Stadtteile wollten, aber weder Häuser noch Wege wiederfinden. Ganze Straßenzüge existieren nicht mehr, selbst Landmarken sind verschwunden. Die Behörden, die früher Müllabfuhr, Energieversorgung oder Notdienste organisiert hatten, existieren de facto nicht mehr. Dort, wo überhaupt Bulldozer fahren, handelt es sich um einzelne private Initiativen – zu wenig, um eine Region zu stabilisieren, die seit zwei Jahren in permanenter Extremsituation lebt.
Besonders aufschlussreich sind Berichte mehrerer Bewohner, die offen sagen, ihnen sei inzwischen gleichgültig, wer Gaza künftig verwaltet – Hauptsache, es gibt Lebensmittel, Trinkwasser, Sicherheit. Viele machen kein Geheimnis daraus, dass sie die Hamas nicht mehr als Schutzmacht sehen, sondern als inneren Gegner, der Leid über die eigene Bevölkerung bringt. Gleichzeitig wächst die Furcht: Die Hamas erscheint vielen als Macht, die trotz schwerer militärischer Verluste in den Untergrund abtaucht, Strukturen neu formiert und nun versucht, in der Phase der Unsicherheit wieder Kontrolle zu gewinnen.
Diese Entwicklung ist keine abstrakte Analyse, sondern tägliche Erfahrung. Bewohner berichten von Übergriffen, Einschüchterungen, verschwundenen Personen und offener Gewalt. Dass diese Stimmen überhaupt vor Kameras sprechen, gilt als ungewöhnlich. Denn jeder weiß, was geschehen kann, wenn Aussagen als illoyal gewertet werden.
Zwischenüberschrift 2: Der gescheiterte Wiederaufbau und die Angst vor der nächsten Machtübernahme
Trotz der Hilfslieferungen ändert sich an den Lebensbedingungen kaum etwas. Die Preise bleiben hoch, viele Menschen haben kein Einkommen mehr, und die Märkte sind zwar gefüllt, aber weitgehend unerschwinglich. Es gibt einzelne Inseln relativer Normalität – etwa neue Restaurants oder importierte Elektronik –, doch sie stehen im scharfen Widerspruch zur Umgebung. Sie wirken wie Fremdkörper in einer Region, die im Kern zerbrochen bleibt.
Auffällig ist, wie viele Gazaner heute die eigene Zukunft nicht mehr in Gaza sehen. Manche sprechen offen von einem bevorstehenden Massenexodus, sollte sich die Lage nicht grundlegend ändern. Andere halten die Zelte, in denen sie leben, für den Ausgangspunkt eines jahrelangen Stillstands. Die Vorstellung, man könne die Region in wenigen Jahren wieder aufbauen, stößt bei vielen auf Unglauben. Nicht nur wegen der materiellen Schäden, sondern wegen des politischen Zustands: Solange die Hamas versuche, jede alternative Verwaltung zu verhindern, bleibe Gaza in einem Kreislauf aus Abhängigkeit, Gewalt und Zerstörung.
Parallel dazu formieren sich erstmals kleinere bewaffnete Gruppen, die offen erklären, gegen die Hamas zu kämpfen. Sie sind keine politischen Bewegungen, sondern lokale Milizen, die aus Not heraus entstanden sind. Sie betrachten sich selbst als Verteidiger ihrer Nachbarschaften gegen eine Organisation, die sie nicht länger als legitimen Akteur akzeptieren. Doch ihre realen Fähigkeiten bleiben begrenzt – und sie wissen es. Viele gestehen offen, dass ihr Schicksal unklar ist, sollte Israel eines Tages vollständig aus bestimmten Sektoren abziehen.
In dieser Gemengelage spricht kaum jemand von „Frieden“. Die Waffenruhe verhindert Blutvergießen, aber sie schafft keine Sicherheit. Sie schafft keinen Wiederaufbau, keine politische Ordnung, keine Perspektive. In den Worten eines Bewohners: „Die Menschen haben alles verloren. Häuser, Kinder, Familien. Und darüber hinaus die Hoffnung.“ Dass er diese Sätze in einem Zelt ausspricht, in dem er seit Monaten lebt, macht die Dimension greifbar. Es ist nicht die Frage, ob Gaza wieder aufgebaut wird – sondern ob es unter den derzeitigen Machtverhältnissen überhaupt möglich ist.
Für Israel ergibt sich daraus ein nüchternes Bild: Solange die Hamas versucht, ihre Strukturen wiederherzustellen, bleibt die Region instabil. Die Waffenruhe mag einen militärischen Stillstand markieren, aber sie beendet keinen Konflikt, der tiefer in der politischen und sozialen Zerstörung verankert ist, als es von außen oft wahrgenommen wird.
Autor: Redaktion
Bild Quelle:
Samstag, 15 November 2025