Wenn Interessen über Ideologie entscheiden: Syriens Justizminister verteidigt Koordination mit US-Koalition

Wenn Interessen über Ideologie entscheiden: Syriens Justizminister verteidigt Koordination mit US-Koalition


Dr. Mazhar al-Wais, Syriens Justizminister, erklärt in einem bemerkenswert offenen Interview, warum sicherheitspolitische Abstimmungen mit der US-geführten Anti-IS-Koalition seiner Ansicht nach mit den Regeln der Scharia vereinbar sein können. Seine Worte zeigen, wie tief das Land zwischen religiöser Rechtfertigung, staatlichem Überleben und geopolitischem Druck zerrieben wird.

Wenn Interessen über Ideologie entscheiden: Syriens Justizminister verteidigt Koordination mit US-Koalition

Als der syrische Justizminister Dr. Mazhar al-Wais dem Media Line ein Interview gab und erläuterte, dass Koordination mit der US-geführten Anti-IS-Koalition „unter bestimmten Bedingungen rechtmäßig im Sinne der Scharia“ sein könne, sorgte das in der Region für Aufsehen. Nicht, weil die syrische Führung plötzlich Nähe zu Washington sucht, sondern weil al-Wais offen ausspricht, was in Syrien längst Realität ist: Staatliches Handeln ist nur noch möglich, wenn es islamrechtlich begründet wird – auch dann, wenn es um die Zusammenarbeit mit einem langjährigen Gegner geht.

Al-Wais begann mit einer Grundunterscheidung, die in der islamischen Rechtslehre zentral ist, aber in der politischen Debatte oft ignoriert wird: Zwischen Loyalität und funktionaler Abstimmung. Nicht jede Form sicherheitspolitischer Koordination stelle Treue zu einem ausländischen Akteur dar. Politisches Handeln müsse nach seinen Zielen bewertet werden, nicht nach reflexhaften emotionalen Zuschreibungen.
Damit öffnet der Minister einen juristischen Raum, in dem der syrische Staat im Anti-IS-Kampf mit den USA Informationen teilen kann, ohne religiöse Autorität einzubüßen.

Er erklärte, dass die Scharia ein strukturiertes System sei, das aus Koran und Sunnah abgeleitet wird und nicht nur Gottesdienst, sondern auch ethische Entscheidungen, gesellschaftliche Ordnung und staatliches Handeln einschließt. Eine fatwa – ein Rechtsgutachten – sei nicht bloß eine fromme Meinungsäußerung, sondern eine sorgfältige Ableitung aus diesen Quellen, angepasst an reale politische Umstände. Nach dieser Logik könne selbst eine sicherheitspolitische Abstimmung mit einer ausländischen Macht erlaubt sein, sofern sie Schaden vom Land abwende und den Staat nicht seiner Unabhängigkeit beraube.

Al-Wais stellte zudem klar, dass die syrischen Streitkräfte und lokale Verbände lange vor internationalen Akteuren gegen den IS gekämpft hätten. Dass ihre Operationen sich zeitweise mit jenen der Koalition überschneiden, deutet für ihn nicht auf ein Bündnis hin, sondern auf ein Nebeneinander zweier Akteure mit einem identischen Feind. Kooperation, so seine Argumentation, bedeute weder Unterordnung noch Aufgabe staatlicher Prinzipien.

Unterstützung erhält er aus der religiösen Verwaltung des Landes. Sheikh Ahmad Anwar vom Ministerium für religiöse Stiftungen betonte, internationale Koordination sei legitim, sofern sie einem übergeordneten Schutzinteresse diene und nicht zu größerem Unheil führe. Entscheidendes Kriterium sei immer die Abwehr eines Angreifers. Auch dies ist ein Hinweis darauf, wie eng religiöse Legitimation und sicherheitspolitische Praxis in Syrien inzwischen miteinander verflochten sind.

Der Zeitpunkt dieser Aussagen ist nicht zufällig. Während die US-geführte Koalition weiterhin IS-Zellen im Norden und Osten Syriens bekämpft, versucht Damaskus verstärkt, in zurückeroberten Gebieten staatliche Autorität herzustellen. Doch die Landschaft Syriens hat sich seit Jahren grundlegend verändert: Lokale Milizen, religiöse Autoritäten und regionale Akteure bilden ein Machtgewebe, das die traditionelle staatliche Ordnung herausfordert. Al-Wais bewegt sich in diesem Spannungsfeld sichtbar vorsichtig – und versucht gleichzeitig, die Regierung als rechtlich und religiös legitim handlungsfähig darzustellen.

In seinem Schlusswort betonte al-Wais, dass Syrien ein Land mit vielfältigen religiösen und ethnischen Gemeinschaften sei und deshalb kein rein religiöses Rechtssystem anwenden könne, ohne Schaden anzurichten. Der syrische Staat operiere offiziell unter einem zivilen Rechtsrahmen, der islamische Prinzipien berücksichtigt, aber Minderheitenschutz und gesellschaftliche Vielfalt bewahren müsse. Diese Bemerkung wirkt wie ein Versuch, staatliche Integrität zu behaupten, während das Land nach Jahren der Zerstörung noch immer nach einem funktionierenden Gleichgewicht sucht.

Das Interview zeigt vor allem eines: Syriens Regierung versucht, den Anti-IS-Kampf als rechtlich wie religiös legitim darzustellen und gleichzeitig politische Handlungsspielräume offenzuhalten – zwischen ausländischem Druck, internen Machtverschiebungen und der Fragilität einer Gesellschaft, die sich noch immer nicht von den Jahren des Krieges erholt hat.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot Youtube


Sonntag, 16 November 2025

haOlam via paypal unterstützen


Hinweis: Sie benötigen kein PayPal-Konto. Klicken Sie im nächsten Schritt einfach auf „Mit Debit- oder Kreditkarte zahlen“, um per Lastschrift oder Kreditkarte zu unterstützen.
empfohlene Artikel
weitere Artikel von: Redaktion

haOlam.de – Gemeinsam in die Zukunft

Nach dem Tod des Herausgebers führen wir haOlam.de weiter. Für dieses umfangreiche Projekt suchen wir finanzielle Unterstützer sowie Anregungen und Hinweise zu technischen Fehlern während der laufenden Überarbeitung.

Kontakt: redaktion@haolam.de

Danke für eure Unterstützung!


meistgelesene Artikel der letzten 7 Tage