Geheimer Gesetzestext, politisches Kalkül, wachsende Wut: Der Streit um das neue Ultraorthodoxen-Gesetz spaltet Israel erneutGeheimer Gesetzestext, politisches Kalkül, wachsende Wut: Der Streit um das neue Ultraorthodoxen-Gesetz spaltet Israel erneut
Was der Öffentlichkeit präsentiert wurde, stimmt nicht mit dem überein, was die führenden ultraorthodoxen Rabbiner tatsächlich genehmigt haben. Während Netanjahu taktisch Zeit gewinnt, wächst der Zorn der Soldatenfamilien – und die Koalition balanciert am Rand ihres eigenen Abgrunds.
In der israelischen Innenpolitik bahnt sich ein neuer Sturm an – einer, der sowohl gesellschaftliche Spannungen verschärft als auch die Stabilität der Koalition ins Wanken bringt. Der Streit um das Gesetz zur Freistellung ultraorthodoxer Männer vom Wehrdienst erreicht eine neue Eskalationsstufe, nachdem klar wurde, dass der Text, der den führenden litauischen Rabbinern vorgelegt wurde, nicht identisch ist mit dem, was der Öffentlichkeit kommuniziert worden war. Die Unterschiede sind klein, aber nicht nebensächlich – und sie erklären, warum die Rabbiner überhaupt grünes Licht gegeben haben.
Hinter den Kulissen ist ein hochsensibles Spiel im Gange: Während die Öffentlichkeit eine Version des Gesetzes sieht, wurde den Rabbinern ein politisch weichgezeichneter Entwurf präsentiert. Ultraorthodoxe Quellen bestätigen, dass minimale, aber entscheidende Änderungen vorgenommen wurden, um ihre Zustimmung zu sichern. Für die israelische Gesellschaft, die nach zwei Kriegsjahren erschöpft und sensibilisiert ist, könnte dieser Unterschied eine rote Linie überschreiten. Schon der ursprüngliche Text löste scharfe Reaktionen aus; ein weiterer Schritt in Richtung Sonderstatus wird das Vertrauen weiter untergraben.
Der politische Hintergrund ist ebenso heikel wie durchschaubar. Benjamin Netanjahu, der seit Monaten zwischen seinen Koalitionspartnern, der Armee und einer zunehmend frustrierten Öffentlichkeit laviert, ist gezwungen, den Prozess zumindest formal voranzutreiben. Nach Einschätzung zahlreicher Regierungs- und Parlamentsquellen erkennt er klar, dass keine der beteiligten politischen Kräfte derzeit ein Interesse an Neuwahlen hat. Die Koalition hält – aus Schwäche, nicht aus Stärke.
Für den Premierminister wird Zeit zur Lebensversicherung. Mit jedem Tag, den das Gesetz auf den Schreibtischen der Ausschüsse verbringt, ohne das Plenum zu erreichen, bleibt seine Regierung im Amt. Deshalb kann er es sich leisten, die ultraorthodoxen Parteien zu beschwichtigen und gleichzeitig nichts endgültig zu beschließen. Auch den Militär- und Sicherheitsapparat beruhigt er mit vagen Versprechen einer zukünftigen Reform, die realistischerweise niemand erwartet.
Die Dynamik zwischen den Koalitionspartnern zeigt die Bruchlinien: Die litauischen Rabbiner, Dov Landau und Moshe Hirsch, stimmten einer begrenzten Weiterarbeit am Gesetz nur zu, nachdem betont wurde, dass sie die finale Fassung vor der Abstimmung erneut prüfen dürfen. In der Koalition allerdings provozierte diese Bedingung offenen Ärger. Ein hochrangiger Regierungsfunktionär formulierte es hart: „Kein Gesetz kommt ins Plenum, bevor die Ultraorthodoxen eindeutig dafür sind.“ Das Vertrauen innerhalb der Koalition ist so fragil, dass selbst technische Ausschusssitzungen politisches Sprengpotenzial bergen.
Gleichzeitig kündigen neue Details über die Gesetzesinhalte eine noch breitere Debatte an. Die Änderungen, die zur Beschwichtigung der Rabbiner eingeführt wurden, sind mehr als kosmetisch: Eine niedrigere Definition dessen, wer als ultraorthodox gilt; der Wegfall von Sicherheitsvorgaben für Kampfeinheiten; ein weicherer Umgang mit Dienstverweigerern; und die Anerkennung bestimmter ziviler Tätigkeiten als Ersatzdienst. Kritiker aus dem Reservistenumfeld und Soldatenfamilien sehen darin eine weitere Aufweichung eines ohnehin tief umstrittenen Gesetzes. Die Entfremdung zwischen der kämpfenden Bevölkerung und Teilen der politischen Führung wächst.
Es gibt jedoch auch eine nüchterne Einschätzung aus fast allen politischen Lagern: Selbst wenn das Gesetz in Bewegung bleibt, wird es wahrscheinlich irgendwo zwischen Ausschuss, Plenum und Koalitionsinteressen stecken bleiben. Entweder werden weitere Änderungen die Zustimmung der Rabbiner wieder infrage stellen – oder Koalitionsmitglieder, die sich nach einem ausgewogeneren Gesetz sehnen, ziehen die Notbremse. Das Ergebnis könnte eine Form von kontrollierter Stagnation sein, die allen politischen Akteuren ein Überleben ermöglicht – aber keinem moralische Klarheit verschafft.
Für Israel bleibt eine Grundfrage unbeantwortet: Wie lange kann ein Staat, der sich in einem existenziellen Sicherheitsumfeld befindet, ein Rekrutierungssystem aufrechterhalten, das ganze Bevölkerungsgruppen systematisch ausnimmt? Und wie viel politisches Kapital ist eine Regierung bereit zu opfern, um eine fragile Koalition am Leben zu halten?
Die kommenden Wochen werden zeigen, ob das Gesetz tatsächlich nur ein Werkzeug zur Zeitgewinnung bleibt – oder ein neuer Katalysator für gesellschaftlichen Konflikt wird. Die Anzeichen sprechen für Letzteres.
Autor: Redaktion
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Freitag, 21 November 2025