Khan Yunis: Eine Miliz stellt sich offen gegen die Herrschaft der Hamas

Khan Yunis: Eine Miliz stellt sich offen gegen die Herrschaft der Hamas


In den Ruinen von Khan Yunis tritt eine neue bewaffnete Gruppe hervor, angeführt von einem Mann, der Jahrzehnte im israelischen Gefängnis saß. Ihr Ziel: den Einfluss der Hamas brechen.

Khan Yunis: Eine Miliz stellt sich offen gegen die Herrschaft der Hamas

Im südlichen Gazastreifen, in jenem Gebiet, in dem die Hamas über Jahre jede Form innerer Opposition mit Gewalt erstickte, ist in diesen Tagen ein ungewöhnliches Bild zu sehen: eine kleine, aber sichtbar entschlossene Gruppe bewaffneter Männer, die sich öffentlich gegen die Herrschaft der Terrororganisation stellt. Das Material, das am Wochenende aus Khan Yunis auftauchte, zeigt Shuki Abu Natzira – eine bekannte Figur im Machtgefüge der palästinensischen Fraktionen – wie er vor einer Reihe maskierter Kämpfer steht und Aussagen trifft, die im Gazastreifen einst kaum jemand zu äußern wagte.

Abu Natzira, ein Mann, der in den 1980er Jahren 23 Jahre in israelischen Gefängnissen verbrachte und einst ranghoher Offizier in den Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde war, spricht vor seinen Männern von einer Aufgabe, die er als Befreiungsakt beschreibt. Er bezeichnet die Hamas als „Feind des Islam und der Sunniten“ und erklärt, dass jene, die den Mut hätten, sich gegen die Organisation zu stellen, keine Verräter seien, sondern Angehörige des „besten Teils des Volkes“. Hinter ihm stehen junge Männer, viele von ihnen kaum älter als zwanzig, die ihm in ihren Rufen antworten: „Tod der Hamas“.

Die neue Miliz ist nicht die erste ihrer Art. Seit Monaten entstehen im Gazastreifen bewaffnete Kleingruppen, die aus lokalen Familienverbänden hervorgehen und sich vom Machtmonopol der Hamas lösen wollen. Vertreter anderer solcher Gruppierungen berichten, dass sie einst aus wenigen Kämpfern bestanden und erst durch die massive Schwächung der Hamas während der israelischen Militäroperationen überhaupt überlebensfähig wurden. Inzwischen zählt man mindestens fünf dieser Formationen, jede mit eigener Agenda, doch alle vereint durch die offene Feindschaft zur Hamas.

Die Miliz von Abu Natzira soll im Osten von Khan Yunis aktiv sein, doch der genaue Standort bleibt unklar – nicht zuletzt, weil die Hamas weiterhin versucht, jede Herausforderung ihrer Autorität zu unterdrücken. Die Terrororganisation geht seit Wochen gegen solche lokalen Gruppen vor, teils mit brutalen Mitteln. Die Bilder aus Gaza zeigen einen Machtkampf, der tief in die Struktur des Gebiets eingreift: Die Hamas, einst unangefochtene Herrscherin über jeden Straßenzug, spürt den Druck, den der Krieg erzeugt hat. Zugleich entstehen Räume, in denen Menschen ihre lange unterdrückte Wut offen äußern.

Die Ursprünge dieses Phänomens liegen im Zusammenbruch jener Clan-Strukturen, die die Hamas selbst über Jahre genutzt und zugleich im Keim erstickt hat. Als die Feuerpause im Oktober begann, nutzten einige dieser Familien die kurze Phase der relativen Ruhe, um ihre lokalen Verbände zu stärken. Doch kaum waren die ersten Gruppen sichtbar geworden, reagierte die Hamas mit Härte. Aus diesen ersten Auseinandersetzungen entwickelte sich das Netz heutiger Milizen, die sich – trotz Gefahr – öffentlich zeigen und damit die vielleicht bedeutendste interne Herausforderung für die Organisation seit vielen Jahren darstellen.

Abu Natzira selbst ist eine vielschichtige Figur: Kriegsversuchter Veteran, ehemaliger Offizier, Vater eines Sohnes, der im Krieg getötet wurde. Seine Vergangenheit als Gefangener, seine Flucht aus dem israelischen Gefängnis Nafha durch einen selbst gegrabenen Tunnel – all das macht ihn innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu einer Legende. Zugleich ist er jemand, der die Grausamkeit der Hamas am eigenen Leibe erlebt haben soll. Berichte sprechen davon, dass Angehörige seiner Familie unter Repressionen litten. Für ihn scheint dieser Kampf persönlicher zu sein als für viele seiner Kämpfer.

Doch trotz all dieser Dramatik darf man die Lage nicht beschönigen. Die Hamas bleibt militärisch und organisatorisch weit stärker als jede dieser lokalen Formationen. Auch wenn die Terrororganisation durch die israelischen Operationen schwer getroffen wurde, bleibt sie im Gazastreifen tief verwurzelt – sei es durch jahrzehntelange Kontrolle oder durch ein System aus Loyalität, Zwang und Propaganda. Die Miliz von Abu Natzira ist ein Symbol im Wandel einer Gesellschaft, aber nicht der Beginn einer neuen Ordnung.

Dennoch haben solche Szenen Gewicht. Sie zeigen, dass die Hamas – trotz aller Gewalt, trotz aller Einschüchterung – ihre Stellung nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen kann. Dass Menschen, die ihr Leben lang von ihr beherrscht wurden, bereit sind, vor laufender Kamera ihre Ablehnung auszusprechen, ist an sich ein Wendepunkt. Er offenbart die Spannungen, die unter der Oberfläche brodeln, und lässt ahnen, wie komplex die Zukunft des Gazastreifens sein wird, sobald die Waffen endgültig schweigen.

Die Miliz von Abu Natzira könnte verschwinden oder wachsen; sie könnte in den kommenden Wochen von der Hamas zerschlagen werden oder sich mit anderen Gruppierungen verbinden. Doch sie ist Teil eines größeren Bildes: In Gaza entsteht ein Kampf um Identität und Macht, der nicht ausschließlich militärisch ist. Er handelt vom Versuch einer Gesellschaft, die jahrelang in Gewalt und Angst gehalten wurde, wenigstens einen kleinen Raum für eine alternative Zukunft zu schaffen. Und er zeigt, wie brüchig das Fundament ist, auf dem die Hamas ihre Herrschaft aufgebaut hat.


Autor: Redaktion
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Montag, 24 November 2025

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