Die Brüder Menendez und das Amerika der zweiten Chance: Warum plötzlich alles wieder auf dem Prüfstand stehtDie Brüder Menendez und das Amerika der zweiten Chance: Warum plötzlich alles wieder auf dem Prüfstand steht
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem grausamen Mord an ihren Eltern könnten Lyle und Erik Menendez bald eine neue Chance vor Gericht bekommen – zwischen Netflix-Ruhm, Missbrauchsanklagen und einer Justiz, die sich selbst hinterfragt.
Am 20. August 1989 erschütterte ein Doppelmord das glamouröse Beverly Hills – und mit ihm die Vereinigten Staaten. Die Brüder Lyle (damals 21) und Erik Menendez (18) erschossen ihre Eltern José und Kitty mit insgesamt 14 Gewehrschüssen, während diese schlafend auf dem Sofa lagen. Anschließend wählten sie hysterisch den Notruf – ein Auftritt, der das Bild zweier trauernder Söhne vermitteln sollte. Doch die Ermittler wurden misstrauisch. Innerhalb weniger Monate hatten die Brüder über 700.000 Dollar vom millionenschweren Vermögen des Vaters ausgegeben. Luxushotels, Autos, Shopping – kein Anzeichen von Trauer, keine Reue.
Sie wurden gefasst, angeklagt, und schließlich zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt. Das Urteil galt jahrzehntelang als endgültig – doch nun, nach einer Serie neuer Entwicklungen, wird der Fall plötzlich wieder aufgerollt. Nicht in einem klassischen Wiederaufnahmeverfahren, sondern über den Umweg neuer Strafmaßanhörungen, die ab Dienstag und Mittwoch in Los Angeles beginnen sollen.
Ein alter Fall im neuen Licht
Der frühere Bezirksstaatsanwalt George Gascón zeigte sich offen für eine Strafmilderung: 50 Jahre Haft mit Aussicht auf Bewährung, so sein Vorschlag. Doch sein Nachfolger Nathan Hochman lehnt dies vehement ab. Seiner Meinung nach seien die Brüder „nicht bereit“ für einen neuen Prozess, geschweige denn für eine Resozialisierung. Er verweist unter anderem auf einen Vorfall im Gefängnis: Die beiden sollen illegale Mobiltelefone eingeschmuggelt haben – für Hochman ein Zeichen anhaltender Disziplinlosigkeit und „fehlender Selbstkontrolle“. Zudem deute eine interne Risikobewertung der kalifornischen Bewährungskommission – deren Ergebnisse noch nicht öffentlich gemacht wurden – darauf hin, dass eine Freilassung nicht verantwortbar sei.
Was wie ein juristisches Detail klingt, wird durch eine ganz andere Kraft erneut in den Fokus gerückt: den medialen Hype. Im Oktober 2024 veröffentlichte Netflix die Doku-Serie Monsters: The Lyle and Erik Menendez Story, produziert von Ryan Murphy – der bereits mit „Dahmer“ weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Die Serie stellte nicht nur die Grausamkeit des Mordes dar, sondern rückte auch die Behauptungen der Brüder über sexuellen Missbrauch durch den Vater in den Mittelpunkt.
Und genau dort liegt die Bruchlinie der öffentlichen Debatte: Waren Lyle und Erik Opfer eines gewalttätigen Elternhauses, die schließlich in einem psychischen Ausnahmezustand handelten? Oder sind sie kaltblütige Mörder, die ihr Trauma instrumentalisieren, um einem gerechten Urteil zu entgehen?
Trauma, Medien und Justiz im Spätkapitalismus
Während der Prozesse in den 1990er Jahren wurden die Aussagen über jahrelangen sexuellen Missbrauch durch den Vater weitgehend als Schutzbehauptung abgetan. Heute allerdings leben wir in einer anderen Zeit. Eine Zeit, in der Missbrauchserfahrungen ernster genommen werden, in der kollektives Zuhören – zumindest rhetorisch – zum Ethos gehört. Es gibt nun auch Zeugen, darunter ein ehemaliges Mitglied der Boyband „Menudo“, das angibt, ebenfalls von José Menendez vergewaltigt worden zu sein. Sollte sich diese Aussage als glaubwürdig herausstellen, würde sie dem Narrativ der Brüder dramatische neue Glaubwürdigkeit verleihen.
Die Frage, die nun im Raum steht, ist größer als das Schicksal zweier Häftlinge: Wie geht eine Gesellschaft mit Schuld um, wenn der Täter zugleich Opfer ist? Und wie weit darf öffentliche Meinung – befeuert durch Streamingdienste, Social Media und emotionale Kampagnen – Einfluss auf das Strafmaß nehmen?
Die nächsten Tage in Los Angeles werden zeigen, ob sich das amerikanische Justizsystem bewegt. Vielleicht nicht in Richtung völliger Rehabilitierung, aber doch hin zu einer tiefergehenden Neubewertung. Die Brüder Menendez sind mittlerweile über 50 Jahre alt. Über die Hälfte ihres Lebens haben sie hinter Gittern verbracht. Ob das reicht, um einen Doppelmord zu sühnen – oder ob ihr Motiv und die psychische Lage zur Tatzeit heute in einem anderen Licht stehen dürfen – ist keine juristisch eindeutige Frage mehr.
Es ist eine moralische.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Di Orsf - Opera propria, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=156235950
Samstag, 10 Mai 2025