Raw Frand zu Parschat Schemot: Barmherzigkeit und Wahrheit - die Reihenfolge ist wichtig

Raw Frand zu Parschat Schemot:

Barmherzigkeit und Wahrheit - die Reihenfolge ist wichtig


An diesem Shabbat lesen wir die Parascha Schemot aus der Torah. Raw Frand erläutert Aspekte dieser Parascha und ihrer Bedeutung. Heute lesen Sie den zweiten Kommentar zur Parascha.

Barmherzigkeit und Wahrheit - die Reihenfolge ist wichtig

Die Tora erzählt uns, dass Pharaos Tochter im Nil baden ging und dabei einen kleinen Korb (Tejwa) bemerkte, der zwischen dem Schilf schwamm. Sie griff danach und öffnete den Korb. Darin war ein weinendes Kind. Sie hatte Erbarmen mit dem Kind und bemerkte, dass es ein jüdisches Baby war. [Schemot 2:5-6]

Der Passuk [Vers] beschreibt die Begebenheit in der umgekehrten Reihenfolge. Eine adäquatere Reihenfolge wäre: ‚Sie öffnete den Korb, sah das Kind und bemerkte, dass es jüdisch war. Sie hörte es weinen und erbarmte sich seiner‘.  So wäre das Erblicken des Kindes mit der Erkenntnis, dass es ein jüdisches Kind war, in Verbindung gebracht worden. Der Passuk hingegen schreibt, dass nach dem Sehen des Kindes, Pharaos Tochter zuerst das Weinen bemerkte und erst danach erkannte, dass das Baby jüdisch war. Zuerst entwickelte Pharaos Tochter Mitgefühl mit dem Kind und erst nachher kam die Frage nach der Herkunft.

Rabbi Nissan Alpert weist auf einen tiefen Hintergrund in diesem Passuk hin. Dies tat er anlässlich des Hesped [Trauerrede] bei der Lewaja (Beerdigung) seines Lehrers, Rabbi Mo-sche Feinstein. Rabbi Alpert illustrierte diesen Passuk, indem er eine von Rabbi Feinsteins Lebensweisheiten erklärte.

Rabbi Alpert erinnerte daran, dass Leute sich über Rabbi Mosche beschwerten. Rabbi Mosche schrieb mehr Empfehlungsschreiben für Torawerke, als wir zählen können. Rabbi Mosche war bekannt als der „grosse Maskim“, denn er stellte unzählige Haskamas (Empfehlungsschreiben) für jegliche nur denkbare jüdische Literatur aus. Er tat dies bis zu dem Grad, dass man eine Haskama von Reb Mosche als ‚billig‘ betrachten konnte. Es war, als ob jeder, der nur seinen eigenen Namen schreiben konnte, eine Haskama von Rabbi Mosche erhalten konnte.

Das gleiche galt auch für Empfehlungsschreiben, Referenzschreiben oder Beglaubigungsschreiben für Bedürfnisse aller Art.... Oft hatten diese Schreiben wegen ihrer Häufigkeit nicht das gewünschte Gewicht. Rabbi Alpert wies darauf hin, dass Leute mit dem Vorwurf zu Rabbi Feinstein kamen, dass dieser seinem Namen durch diese Freizügigkeit verwässere.

Rabbi Alpert erklärt, dass es zwei  Konzepte gibt, die sich gegenseitig ausschliessen. Chesed (Barmherzigkeit) und Emes (Wahrheit). Chesed wird ohne Überlegen und Nachdenken ausgeübt - nur so als Gefallen oder als gute Tat. Wahrheit ist hingegen ein absoluter Wert - recht oder unrecht, wahr oder falsch.

Es ist kein Zufall, dass das Wort Chessed immer vor dem Wort Emes in der Tora erwähnt wird. [z.B. Berejschit 24:49, Schemot 34:6, Jehoschua 2:14] Würde Emes Chesed vorangestellt, so würden wir nie zu Chesed kommen. Wenn unser Lebensdogma immer die ‚Wahrheit‘ wäre, so würde niemand Barmherzigkeit empfangen. Keine Schule erhielte Unterstützung, keine Institution bekäme eine Spende, keinem Armen würde die Hand gereicht werden, keiner bekäme ein positives Beglaubigungsschreiben. Niemand kann einer Prüfung der absoluten Wahrheit standhalten. Der einzige Zugang im Leben muss sein, “und erweise mir Barmherzigkeit und Wahrheit.“[Berejschit 47:29]

Rabbi Mosches Lebenseinstellung war es, dass die natürliche Reaktion eines Menschen als erstes Chesed sein muss. Erst im Nachhinein, kann diese durch Emes korrigiert werden. Die anfängliche Haltung muss jedoch Chesed wiederspiegeln.

Als Pharaos Tochter den Korb aufhob, erblickte sie als erstes ein weinendes Kind mit dem dringenden Bedürfnis nach Hilfe. Wenn sie sich zuerst die Frage nach dem wer, was, woher und warum gestellt hätte, so hätte ihre Barmherzigkeit sich nie entfalten können. Dies ist die Lehre dieses Passuks.

Der Midrasch besagt, dass Mosche (Moses) zehn verschiedene Namen hatte; Vater, Mutter, Geschwister, Verwandte und das Volk gaben ihm  Namen. G’tt aber verwendete aber  immer den Namen, den Batja, die Tochter Pharaos, ihm gegeben hatte. Dies unterstreicht die Belohnung, welche denen gebührt, die barmherzig sind.

Was war Batjas Zugang mit dem sie diese Belohnung verdiente? ‚Du siehst ein weinendes Kind sei barmherzig und stelle nachher Fragen. Später kannst du innehalten und fragen: ‚Wer ist er? ‚Ein Jude.‘‘

Das war Batjas Geisteshaltung und die Geisteshaltung, die sie an Mosche weitergab. Aus diesem Grund muss ein jüdischer Führer den ‚Chesed‘ dem ‚Emes‘ voranstellen. Würde man dem ‚Emes‘ den Vortritt lassen, so würde man nie zu ‚Chesed‘ gelangen.
 

Der Schlüssel zur Offenbarung: Warum wird er nicht vom Feuer aufgezehrt?
 
Rabbi Alpert weist auf eine weitere tiefgründige Geschichte hin. Es geht um Mosche und den brennenden Busch. “Ich will hingehen und diese wunderbare Erscheinung betrachten. Warum wird der Dornbusch nicht aufgezehrt?“[3:3] Gleich danach geschieht eines der historisch bedeutendsten Ereignisse: G’tt erscheint Mosche zum ersten Mal.

Darin liegt eine Botschaft -  Eine Botschaft wie man den Weg zum Glauben an G’tt (zur Emunah) findet.

Wie kann man zum Bewusstsein gelangen, dass ein Schöpfer dieser Welt existiert?

Diese uralte Frage beschäftigt die Menschheit seit jeher. Wie weiss man, dass G’tt existiert? Nach dem jüdischen Glauben, ist jeder verpflichtet an die Existenz G’ttes zu glauben. Das geht jeden an. Unabhängig ob er einen überdurchschnittlichen IQ hat oder nicht. Unabhängig ob er ein grosser Philosoph ist oder nicht. Unabhängig ob er ein hohes intellektuelles Niveau erreicht hat oder nicht. Wie erreicht man ein solches Bewusstsein?

Dieser Vers sagt uns, wie Mosche dieses Bewusstsein erlangte. Mosche kam zu diesem Schluss wegen einer Frage, die er nicht beantworten konnte. Es war keine schwierige Frage. Auch war es keine tiefgründige Frage. Es war eine einfache Frage, die sich jeder hätte stellen können. Warum verbrennt dieser Busch nicht? G’tt erschien ihm unmittelbar, nachdem er sich diese Frage gestellt hatte.
 
Welche Lehre können wir daraus ziehen?

Der beste Beweis für G’ttes Existenz, ist, dass wir immer noch da sind. Die Frage lautet: ‚Warum verbrennt der Busch nicht?‘ Wie kann ein Busch ein solches Inferno schadlos überstehen?‘ Die Antwort zu dieser Frage ist, und G’tt sprach ...‘, d.h.  weil G’tt existiert.

Der Geschichte nach, soll Friedrich der Grosse an seinem Hof nach einem unumstösslichen Beweis für die Existenz G’ttes verlangt haben. Die Antwort soll ihm in nur zwei Worten überbracht worden sein: ‚die Juden‘.

G’tt existiert und er beschützt sein auserwähltes Volk. Deshalb verstehen wir, dass der Busch (das Jüdische Volk) nicht verbrennt.

Warum ist also dieser kleine Dornbusch nicht verbrannt? Wir sind ein winziges, kleines Volk, das während tausenden von Jahren verfolgt wurde. Wir haben nie einen Sputnik oder einen Mann ins All geschickt. Warum verbrennt der Busch nicht? Die einzige Antwort dazu muss sein: Weil es einen G’tt im Himmel gibt. Dazu braucht es keine grosse intellektuelle Leistung.

 

Quellen und Persönlichkeiten:

Rabbi Mosche Feinstein (1895 – 1986): Rosch Jeschiwa von Mesivta Tiferet Jerusalem, New York. Einer der grössten zeitgenössischen halachischen Autoritäten
Rav Nissan Alpert: Rav der Agudah Long Island in Far Rockaway und Lehrer an der Jeschiwat ‚Rabbenu Jitzchak Elchanan‘. Verschied kurz nach Rabbi Mosche Feinstein im Jahr 1986.

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Autor: Raw Frand
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Samstag, 18 Januar 2020