Raw Frand zu Parschat Ki Teze: Liebevolle Strenge

Raw Frand zu Parschat Ki Teze:

Liebevolle Strenge


An diesem Shabbat lasen wir die Paraschat Ki Teze aus der Torah. Raw Frand erläutert Aspekte dieser Parascha und ihrer Bedeutung. Heute lesen Sie den ersten Kommentar zur Paraschat.

Liebevolle Strenge

Parschat Ki Teze beinhaltet eines der verwirrendsten Kapitel der Torah - die Gesetze über den missratenen und rebellischen Sohn (Ben Sorer u'Moreh). Es geht um ein männliches Kind im Alter von dreizehn bis dreizehneinhalb Jahren, das sich in gefährlicher Weise daneben benimmt: Der Junge bestiehlt seine Eltern und konsumiert übermässig viel Fleisch und Wein. Die Torah verlangt eine äusserst harte Bestrafung: Die Eltern müssen den Jugendlichen vor das Bejt Din (den religiösen Gerichtshof) bringen und dieser wird ihn (nach Verwarnungen, die nichts nützten) zum Tode durch Steinigung verurteilen - der härtesten Todesstrafe, die in der Torah vorgegeben ist.

Der Talmud im Traktat Sanhedrin (Sanhedrin ist das oberste jüdische Gericht) fragt, warum die Torah so hart mit dem Ben Sorer u'Moreh umgeht - für ein Benehmen, das sicherlich nicht die Todesstrafe rechtfertigt. Die Gemara (der Talmud) antwortet, dass die Torah erkennt, wo dieser Heranwachsende hinsteuert: Er wird letztendlich seinen luxuriösen Lebensstil finanziell nicht bestreiten können und deshalb seine Mitmenschen berauben; letzten Endes wird er in Streitigkeiten hineingeraten, infolge dessen er anderen Menschen das Leben nehmen wird. Es ist besser, wenn er hingerichtet wird, solange er noch relativ unschuldig ist, statt ihn zu Diebstahl, Raub und letztlich auch Mord gelangen zu lassen, wo er sich tatsächlich der Todesstrafe schuldig macht!

 

Die Gemara fügt hinzu - wenigstens gemäss einer Meinung - dass die Situation des Ben Sorer u'Moreh niemals wirklich eingetreten ist und eintreten konnte. Der Grund dafür ist, dass die rechtlichen Bedingungen, die für die Exekution eines solchen Jungen notwendig sind, dermassen präzise und unwahrscheinlich sind, dass es eigentlich unmöglich ist, dass sie jemals in Erfüllung gehen können. Die Gemara rechtfertigt die Tatsache, dass ein "unmögliches" Ereignis in der Torah und im Talmud dermassen ausführlich behandelt wird, mit dem Prinzip, "komm erläutere ihre Lehren und erhalte Lohn dafür" (drosch we'kabel Sachar).

Einerseits kann dies so verstanden werden, dass aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Teil der Torah handelt, wir einen Lohn dafür erhalten werden, dass wir ihn lernen - unabhängig von der praktischen Anwendung dieser Gesetze. Dies geschieht auf die gleiche Weise, wie wir heutzutage die Gesetze des Tempeldienstes oder anderer Riten studieren, die wir nicht mehr imstande sind, auf praktischer Ebene umzusetzen.

Doch Rabbi Awraham Twerski erwähnt noch eine andere Facette des Ausdrucks "drosch we'kabel Sachar". Er ist der Ansicht, dass die Torah uns hier eine Lektion erteilt, die unbedingt dargelegt werden sollte und die uns durchaus praktische Erkenntnisse einbringt. Die Torah spricht hier von einem Konzept, dass vielleicht in den letzten 15 oder 20 Jahren in Mode gekommen ist, aber vorher völlig unbekannt war. Es ist das Konzept von "liebevoller Strenge" (engl. tough love), das die Torah schon vor Jahrtausenden eingeführt hat - lange bevor jegliche Psychologen oder Sozialarbeiter diesen Begriff geprägt haben. Rabbi Awraham Twerski ist selbst praktizierender Psychiater und ist auf das Gebiet der Suchttherapie spezialisiert. Er behandelt bspw. das Problem der Drogensucht, das leider auch in unserer Umgebung nicht selten vorkommt.

Als praktizierender Psychiater, der sich damit auseinandergesetzt hat, ist er der Meinung, dass der einzige Weg, einen süchtigen Menschen zu heilen, derjenige der "liebevollen Strenge" ist. In diesem Zusammenhang müssen sich bspw. Eltern, die ein solches Kind haben, manchmal geradezu unsensibel und sogar grausam gegenüber ihrem Kind verhalten. Die Eltern dürfen ihrem Kind nicht einfach weiterhin Geld geben, damit es seine Sucht stillen kann. Wenn es bedeutet, dass ihr Kind dafür von der Polizei festgenommen werden könnte, weil es von anderen Menschen Geld stiehlt - oder dass es, in letzter Konsequenz für seine Taten, im Gefängnis landen wird - dann soll es eben so sein. Um einen süchtigen Menschen effektiv und nachhaltig zu heilen, muss man sich dem Problem auch zwangsläufig kompromisslos gegenüberstellen. Wenn die Torah über den Ben Sorer u'moreh spricht, informiert sie uns über das Prinzip der "liebevollen Strenge".

Kein menschliches Wesen ist barmherziger als der Allbarmherzige. Wie kann also diese Torah der Barmherzigkeit, deren Wege diejenigen der Annehmlichkeit bzw. Freundlichkeit sind, den Eltern eines Kindes vorschreiben, es vor Gericht zu bringen und exekutieren zu lassen? Die Antwort ist, dass es die ultimative Barmherzigkeit ist - weil die Alternative noch viel schlimmer sein wird.

Wenn, G-tt behüte, ein Kind einen bösartigen Tumor an seinem Bein hat und die einzige Möglichkeit, ihm das Leben zu retten, darin besteht, das Bein zu amputieren, dann würden die Eltern, die das Kind zur Amputation ins Krankenhaus bringen, auch nicht als grausame, sondern als gütige Eltern angesehen werden. Genauso ist dies auch auf Eltern zu beziehen, die ihren Ben Sorer u'moreh vor Gericht bringen, um ihm seine vorgesehene Strafe (nach Verwarnungen, die nichts nützten) zuteilwerden zu lassen. Dies ist der einzige Weg - unter solchen Voraussetzungen - um ihm wenigstens seinen Anteil an der kommenden Welt (Olam Haba) zu retten. Das "drosch we'kabel Sachar" an diesem Kapitel ist, dass manchmal auch "liebevolle Strenge" zur Anwendung kommen muss.

 

Ich sage immer, man solle aufgrund der Ideen und Meinungen, die ich in meinem Unterricht äussere, keine Halacha paskenen (jüdische Religionsgesetze ableiten). Mit Sicherheit sollte niemand, im Kontext der Anwendung von "liebevoller Strenge" gegenüber Kindern, aufgrund einer einzigen Predigt eigenständig paskenen (richten). Doch das Konzept ist in gewissen Situationen der Kindeserziehung berechtigt - und es ist eine wesentliche Lektion, derer wir uns bewusst sein sollten, wenn wir die Gebote über den Ben Sorer u'Moreh analysieren: Manchmal ist das, was grausam erscheint, das grösste Seelenheil für ein Kind.

Der Grund für den Hass der Ammoniter und Moawiter

Die Torah lehrt, dass es einem Ammoniter und einem Moawiter verboten ist, in die "Gemeinde G-ttes" (also in das jüdische Volk) einzutreten (d.h. eine jüdische Frau zu heiraten). Sogar zehn Generation nach ihrem Übertritt zum Judentum, ist es ihnen nicht erlaubt, in eine Familie von jüdischem Ursprung einzuheiraten [Dewarim 23:4]. Ferner wird uns befohlen, niemals Frieden mit ihnen zu schliessen oder sie jegliche Fürsorge gewähren zu lassen [Dewarim 23:7]. Sie sind prinzipiell - auf allen Ebenen - vom Eintritt in das jüdische Volk ausgeschlossen.

Als nächstes lehrt die Torah: "Du sollst keinen (zum Judentum konvertierten) Edomiter hassen, denn er ist dein Bruder. Du sollst keinen (zum Judentum konvertierten) Ägypter hassen, denn du warst ein Fremder in seinem Land. Ihre Nachkommen der dritten Generation (nach dem Übertritt) mögen in die Gemeinde G-ttes eintreten." [Dewarim 23:8-9]. Targum Jonathan fügt hinsichtlich des Verbotes, den Nachfahren eines Ammoniters oder Moawiters zu heiraten, eine sehr interessante Erklärung hinzu: Sogar wenn sie übertreten (und ihre Loyalität zum Judentum bekennen), besteht noch immer ein tiefsitzender Hass in ihren Herzen, der für immer währt.

 

Logischerweise, wenn wir eine Umfrage machen würden, wer eine höhere Wahrscheinlichkeit besitzt, die Juden auf ewig zu hassen - die Nachfahren von Ejsaw (Edom), die Abkömmlinge der Ägypter oder die Nachkommen von Lot (Ammon und Moaw), würden die meisten nicht auf die Nachfahren von Lot setzen.
Ejsaw hat einen lange währenden Groll gegen uns, denn er ist der Ansicht, dass Ja'akow sein Erstgeburtsrecht gestohlen und den ihm gehörenden Segen erschwindelt hat. Die Ägypter sollten uns ebenfalls mit Sicherheit hassen, denn schliesslich haben wir ihr ganzes Land zerstört. Wir haben uns das mächtigste Imperium der Welt (die damalige Supermacht) vorgeknöpft und in Schutt und Asche gelegt. Alle ihre Erstgeborenen wurden getötet. Und trotzdem, nach einigen Generationen, können die Edomiter und Ägypter ihren Judenhass irgendwie überwinden. Doch den Nachfahren von Lot, dem Neffen unseres Urvaters Awraham, haben wir nie etwas angetan. Im Gegenteil: Awraham war unheimlich gütig zu Lot. Er nahm ihn auf, nahm ihn überall mit, verursachte seinen Reichtum - und rettete schliesslich sein Leben. Nach logischem Verständnis, sollten uns seine Nachkommen einen Gefallen schulden und uns lieben. Doch es sind ausgerechnet diese Völker, die uns für alle Ewigkeit hassen! Wie kommt das?

Einmal hörte ich die Antwort auf diese Frage vom Rosch Jeschiwa (Oberhaupt der Talmudschule), Raw Ja'akow Ruderman, sz"l [1901-1987], der sich dabei auf den Chatam Sofer berief. Dies ist eine fundamentale Erkenntnis über das menschliche Wesen. Der Chatam Sofer pflegte zu sagen: "Ich weiss nicht, warum diese Person mich hasst. Ich habe ihr nie einen Gefallen getan!" Einfach betrachtet, scheint es keinen Sinn zu machen. Wir würden eher die Schlussfolgerung erwarten: "Ich habe ihm niemals etwas Böses getan."

Doch dies ist nicht, was der Chatam Sofer gesagt hat. Wenn man jemandem einen Gefallen tut, erzeugt es ein psychologisches Schuldgefühl auf Seiten des Empfängers, dass dieser seinem Gönner etwas schuldig ist. Eine gewisse Erwartung von Dankbarkeit geht damit einher - wenn auch nicht unbedingt explizit - und die meisten Menschen mögen es nicht, jemandem etwas schuldig zu sein. Je grösser der Gefallen war, umso grösser ist die Chance, dass er niemals auf angemessene Weise retourniert werden kann - was wiederum die Gefahr in sich birgt, dass der Empfänger gegenüber seinem Wohltäter ein Hassgefühl im Herzen aufbaut.

Dies ist der Unterschied zwischen Ammon und Moaw auf der einen Seite - und Edom und Mizrajim (den Ägyptern) auf der anderen. Es ist wahr, dass wir Ägypten zerstört haben, doch nach einigen Generationen ist man darüber hinweg. Der "Affront" gegenüber Edom hat sich vor 3600 Jahren ereignet. Ejsaw hat sich seitdem erfolgreich aufgerichtet - und kann darüber hinwegschauen. Doch Lot hat eingesehen, dass Awraham sein Leben gerettet hat. Ohne seinen Onkel würde es ihn gar nicht mehr geben. Diese Schuld in Form von Dankbarkeit, die niemals zurückgegeben werden konnte, war psychologisch nur so zu verarbeiten, indem der Gefallen "abgelehnt" und der Wohltäter in letzter Konsequenz gehasst wurde. Dieser Hass von Lot gegenüber Awraham, wurde über seine Töchter an die Völker von Ammon und Moaw weitergegeben - und es ist ein Hass, der für die Ewigkeit bestimmt ist.

 

 

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Autor: Raw Frand
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Freitag, 28 August 2020

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