Menschenrechte haben keine BedingungenMenschenrechte haben keine Bedingungen
Als im November 1918 Frauen in Deutschland das Wahlrecht erhielten, das ihnen so lange mit brutaler Gewalt vorenthalten wurde, bekamen sie dieses Recht nicht unter der Vorgabe, dass sie nur gewisse Parteien wählen dürfen.
Von Gerd Buurmann
Sie erhielten stattdessen das selbstverständliche Menschenrecht der Demokratie, sich bedingungslos für jede Partei entscheiden zu dürfen.
Man muss sich nicht benehmen, um im Besitz der Menschenrechte zu sein. Die Menschenrechte gelten ausnahmslos für alle und immer.
Hätten Frauen in Deutschland im Jahre 1918 das Wahlrecht nicht erhalten, so wären alle Frauen unschuldig gewesen an den Entscheidungen der kommenden Wahlen. Im Besitz des Wahlrechts jedoch wurden sie verantwortlich. Nicht wenige Frauen sollten sich für eine faschistische Partei entscheiden. Durch das Wahlrecht wurden Frauen verantwortlich für die Nazis.
Ohne das Wahlrecht für Frauen wären alle Frauen in Deutschland unschuldig an der Wahl Hitlers gewesen.
Auch heute gibt es Parteien, von denen behauptet wird, Mitglieder gewisser Gruppen könnten und dürften gewisse Parteien auf gar keinen Fall wählen.
Es gibt Leute, die behaupten, Juden könnten eine gewisse Partei im Bundestag aufgrund ihrer Erfahrung der Verfolgung in Deutschland nicht wählen, ganz so, als wären die Konzentrationslager Einrichtungen zur Nachhilfe in gute Staatsbürgerlichkeit gewesen. Auch ich kenne eine Menge Gründe, warum man die gewisse Parteien nicht wählen sollte. Ich bediene mich dabei jedoch nie der Aussage:
„Ich als alter, weißer Mann sage, dass man das nicht tun sollte.“
Der Aussage, die Juden dürften aufgrund ihrer Herkunft gewisse Parteien nicht wählen, wohnt ein antisemitischer Moment inne. Es ist ein Unterschied, ob man sagt: “Das ist keine Partei, die man wählen sollte“, oder ob man sagt: “Das ist keine Partei, die man als Jude wählen sollte.”
Meine politischen Ansichten formuliere ich aus meinem persönlichen Denken heraus. Natürlich wird dieses Denken auch durch meine Erfahrungen beeinflusst und diese Erfahrungen sind selbstverständlich verbunden mit meiner Hautfarbe, meinem Geschlecht und dem Glauben, in dem ich erzogen wurde, aber ich habe die Freiheit, mich zu diesen Erfahrungen zu verhalten. Niemand ist Opfer seiner Zukunft.
Ich weiß, es gibt Situationen der Angst und der Unterdrückung, die ich als weißer Mann nicht kenne. Ich kenne nicht die spezielle Angst von Frauen, nachts allein im Parkhaus zu sein. Ich weiß nicht, wie es ist, aufgrund meiner Hautfarbe für minderwertig gehalten zu werden. Ich weiß aber auch, dass alle Menschen in der Lage sind, sich von ihren Einflüssen und Prägungen zu emanzipieren. Sie können all die geistigen Ablagerungen der Vergangenheiten hinterfragen und sich die eigenen Ängste und Privilegien bewusst machen, um zu einer Entscheidung zu gelangen, für die man dann unabhängig vom Aussehen und der Herkunft die ganz persönliche Verantwortung übernehmen muss.
Diese persönliche Verantwortung kann niemand nehmen, kein Vorbild, keine Heldin, keine Partei und kein religiöser Führer.
Niemand muss sich benehmen, um nicht diskriminiert zu werden.
Alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts oder welchen kulturellen Zugehörigkeit auch immer, haben das gleiche Recht, sich für das Eine oder für das Andere zu entscheiden. Alle dürfen sich anständig oder unanständig benehmen, ohne dass sie dabei auf ihre Gruppenzugehörigkeit reduziert werden, aus der sich ergeben soll, dass sie gewisse Dinge einfach nicht machen dürfen.
Als alter, weißer Mann kann ich jede Partei wählen. Niemand wird deshalb meine Identität infrage stellen. Ich wähle eine Partei nicht, weil ich weiß bin oder männlich oder alt, sondern weil ich darüber nachgedacht habe. Nachdenken können alle volljährigen Menschen und zwar aller Geschlechter, Hautfarben und Religionen. Die Vernunft ist menschlich und die Freiheit ist kein Privileg des alten, weißen Mannes.
Es gibt Rassisten, die lassen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft nicht in ihre Läden rein. Diese Rassisten kann man bekämpfen, aber sich zudem auch noch dazu entscheiden, diese hasserfüllten Läden nicht zu betreten.
Rassisten, die erklären, man könne aufgrund seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft nur so oder so denken, kann man zwar auch bekämpfen, aber sie geben einem nicht mehr die Möglichkeit, den Laden ihres Hasses zu verlassen, denn sie pressen ihren Hass, geboren aus der Überzeugung, selber die Guten zu sein, in die Körper fremder Menschen. Sie erklären, wenn ein schwarzer Mensch so oder so denkt, dann ist er eben nicht mehr schwarz, wenn ein Jude anders spricht, als es sich für einen Juden geziemt, dann ist er kein echter Jude mehr und wenn eine Frau es wagt, anders zu wählen, als es der männliche Feminist für richtig erachtet, dann ist sie keine wahre Frau mehr.
Dieser Rassismus ist unfassbar brutal, denn er wirft Menschen nicht aus fremden Läden raus, sondern aus ihren Identitäten. Dieser Rassismus macht Menschen nicht zu Opfern an fremden Orten, sondern zu Opfern in ihren eigenen Körpern.
Wer Juden für etwas verurteilt, was er bei allen anderen durchgehen lässt, ist ein Antisemit.
Wer Schwarze für etwas verurteilt, was er bei allen anderen durchgehen lässt, ist ein Rassist.
Wer Frauen für etwas verurteilt, was er bei allen anderen durchgehen lässt, ist ein Sexist.
Tapfer im Nirgendwo
Autor: Gerd Buurmann
Bild Quelle: Freeman brothers studio, Public domain, via Wikimedia Commons
Montag, 23 Mai 2022