Schüsse auf Cristina Kirchner: Attentat oder Agitprop?

Schüsse auf Cristina Kirchner: Attentat oder Agitprop?


Seit dem versuchten Attentat auf die derzeitige argentinische Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird die offizielle Version der Ereignisse öffentlich immer stärker angezweifelt. Dessen ungeachtet mobilisiert die peronistische Basis zu diversen Massenkundgebungen, um die derzeit wegen Veruntreuung von einer Milliarde Dollar im Amt und Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagte Frau Kirchner zu unterstützen.

Schüsse auf Cristina Kirchner: Attentat oder Agitprop?

Von Ramiro Fulano

Unstrittig scheint, dass Cristina Fernández de Kirchner am späten Donnerstagabend gegen 20 Uhr 49 an ihrem Wohnsitz an der Straßenkreuzung Juncal und Uruguay im Nobelviertel La Recoleta eintraf, wo sich wie in den letzten Tagen eine größere Menschenmenge angesammelt hatte, um die juristisch belangte Vizepräsidentin zu feiern. Nachdem Frau Kirchner aus der Limousine stieg, firmierte sie wie auch in den letzten Tagen mehrere Kopien ihres Buches „Sinceramente“ (zu Deutsch „ehrlich“ oder „aufrichtig“). Und drei Minuten später, laut Polizeibericht um 20 Uhr 52, gelang es André Sabag Montiel zweimal mit einer Bersa-Pistole vom Kaliber .32 auf sie zu schießen.

Auf Videos vom Ereignis ist zu sehen, wie jemand in der Menschenmenge auf dem Gehsteig eine Hand mit einer Pistole ausstreckt und sich dann durch die Masse auf Frau Kirchner zubewegt. In einem anderen Video ist ersichtlich, wie eine Hand mit einer Waffe aus geringer Entfernung vor dem Gesicht der Vizepräsidentin mehr oder weniger unwillkürlich herumgewedelt wird (vermutlich aufgrund des Gedränges auf dem Bürgersteig), bevor etwas aus der Mündung tritt, das wie Druckluft oder weißer Rauch wirkt.

Frau Kirchner verharrt daraufhin kurz, greift sich dann mit großer Geste an die Ohren und duckt sich. Sie überlebt den Vorfall unverletzt, weil die Waffe zwar mit fünf Stück Munition geladen gewesen sein soll, aber offensichtlich kein Schuss fiel. Insbesondere angesichts des zweiten Videos, in der die Hand des Täters mehrfach ziellos hin und her wandert, scheint es allerdings fraglich, wo das Projektil selbst bei einem Schuss aus nächster Nähe eingeschlagen wäre.

Angesichts dieses Geschehens beeilten sich argentinische Medien – unterstützt vom spanischen Dienst der Deutschen Welle – ihre Lesart des Ereignisses möglichst schnell öffentlichkeitswirksam zu platzieren. Der Politologe Pedro Núñez drängte auf DW Español dazu, die Ermittlungen zügig voranzutreiben und ihre Ergebnisse so schnell es geht zu präsentieren, bevor sich – wie Núñez es ausdrückte – „Verschwörungstheorien“ bilden. Allein, dafür war es bereits 24 Stunden nach dem angeblichen Attentatsversuch zu spät.

Öffentlich geäußerte Zweifel an der offiziellen Interpretation des Geschehens beziehen sich zunächst einmal auf die Frage, wie es überhaupt sein kann, dass sich jemand mit gezogener Waffe durch eine Menschenmenge auf dem Bürgersteig bis auf ein, zwei Meter der argentinischen Vizepräsidentin nähern konnte, obwohl es an der Kreuzung Juncal und Uruguay seit Tagen vor Stadt- und Bundespolizei nur so wimmelt. Zudem ist davon auszugehen, dass Frau Kirchner von mindestens drei bis vier Personenschützern nachhause begleitet wurde (insgesamt sind 60 Personen für ihre Sicherheit abgestellt).

Sodann liegen Zweifel im Geschehen selbst begründet. Die Waffe war zwar angeblich geladen, es löste sich aber zweimal kein Projektil. Das kann an schlechter Pflege liegen. Es kann aber auch andere Ursachen haben.

Und schließlich wirft die Identität des Täters Fragen auf. Der 35-jährige André Sabag „Tedi“ Montiel ist – als brasilianischer Staatsbürger – seit 1993 in Argentinien ansässig. Bei Nachbarn und Bekannten galt der Death Metal, Taylor Hawkins und Foo Fighter Fan als etwas verrückt. Seine Wohnung im Stadtteil Villa del Parque soll einen chaotischen Eindruck machen. Interessanterweise ist er bereits zweimal einem Reporter des Fernsehsenders Crónica „zufällig“ auf offener Straße vors Live-Mikrofon gestolpert – das wirkt fast noch unwahrscheinlicher als die „zufällige“ zweimalige Ladehemmung seiner Pistole. In beiden Straßeninterviews äußerte Montiel sich kritisch und abwertend zur wirtschaftlichen und politischen Situation. Dementsprechend wurde er nach dem Attentatsversuch öffentlich sofort als politischer Extremist präsentiert – ein bei Neonazis beliebtes Tattoo („Schwarze Sonne“) an seinem Hals scheint diesen Eindruck zu bestätigen.

Tatsächlich mag alles, was über den Attentäter behauptet wird, stimmen. Was dennoch stutzig macht, ist das Timing des Geschehens. Erst vor zwei Wochen hatte die Staatsanwaltschaft in Buenos Aires in der Causa Vialidad wegen der Veruntreuung von knapp einer Milliarde Dollar und der Bildung einer kriminellen Vereinigung eine Haftstrafe von 12 Jahren sowie Schadensersatz in voller Höhe sowie die Entziehung des passiven Wahlrechts auf Lebenszeit von Frau Kirchner gefordert. Seitdem wurde ihr Wohnsitz – und bezeichnenderweise nicht ihr Amtssitz – im Nobelviertel La Recoleta regelrecht von ihren Anhängern belagert, weil es ihr gelungen ist, sich als „Opfer“ einer Verschwörung gegen sie und den Peronismus insgesamt zu inszenieren. Erst am letzten Wochenende versammelten sich mehrere tausend ihrer Fans mit ihren Grillbuden (und ohne WCs) in diesem überwiegend von Rentnern und Pensionären bewohnten, gutbürgerlichen Wohnviertel.

Seit die oppositionelle Regierung der argentinischen Bundeshauptstadt die Kreuzung Juncal und Uruguay im Interesse der öffentlichen Sicherheit räumen und absperren ließ, wird seitens der peronistischen Bundesregierung Druck auf kommunale Stellen ausgeübt. Sogar eine Aufhebung der städtischen Autonomie steht seitdem wieder zur Diskussion – drei Millionen Einwohner von Buenos Aires würden wieder von einem Intendanten regiert, den sie nicht selbst wählen dürften, sondern den der argentinische Präsident ernennt. Der Peronismus vertritt seine diesbezüglichen Vorstellungen bemerkenswerterweise als Triumph der Demokratie.

Und selbstverständlich muss man bedenken, dass es sich beim peronistischen Argentinien um ein Land handelt, in dem Staatsanwälte gewaltsam aus dem Leben scheiden, kurz bevor sie belastendes Material gegen die Amtsinhaber vorlegen wollen. So wurde der Staatsanwalt Nisman 2015 tot in seiner Wohnung im Stadtteil Puerto Madero aufgefunden - einen Tag, bevor er Beweise für eine angebliche Verstrickung der damaligen Staatspräsidentin Cristina Kirchner in die von ihm vermutete Vertuschung einer angeblichen Zusammenarbeit argentinischer und iranischer Stellen beim Anschlag auf den Sitz der AMIA (der Zentrale der israelischen Gemeinden in Argentinien) dem Gericht vorlegen wollte.

Frau Kirchner reagierte auf den Tod des Staatsanwalts Nisman damals angeblich mit der Äußerung: me tiraron un cádaver („man hat mir eine Leiche hingeschmissen“), möglicherweise in Anspielung auf eine Beteiligung argentinischer Geheimdienste, die in Laufweite ihres damaligen Amtssitzes einquartiert sind. Und heute sollte es selbst einer mittelprächtigen Organisation möglich sein, einen öffentlich bekannten Spinner und Krakeeler anzufüttern, der sich aufgrund abstoßender politischer Absichten als Idealbesetzung für die Rolle des Attentäters auf die kugelfeste Cristina empfiehlt. Es wäre der SIDE sicherlich möglich gewesen, eine Bersa Kaliber .32 (aus einheimischer Produktion) so zu präparieren, dass damit niemand ernsthaften Schaden anrichten kann.

Die Abgeordnete der Provinz Santa Fé, Amalia Granata, behauptete bereits kurz nach dem versuchten Attentat, es sei „inszeniert“ und bezeichnete es als „Pantomime“. Die bolivianische Expräsidentin Jeanine Áñez warf der argentinischen Vizepräsidentin vor, sie ließe nichts unversucht, sich „als Opfer zu stilisieren“ um die Opposition zu „delegitimieren“. Öffentlich weniger profilierte Bedenkenträger halten den gesamten Vorfall für politisch höchst zweckdienliches Straßentheater (auch vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise), ein von der Regierungspartei in Auftrag gegebenes Agitpropstück, das Cristina Kirchner als moralische Siegerin im Kampf gegen zweckdienlich herbeifantasierte dunkle Mächte zeigen soll. Egal, was nun stimmt: Sowohl die Fake-Vermutungen als auch die Möglichkeit, dass sie sich als richtig herausstellen, sind nicht dazu angetan, das bereits jetzt unterentwickelte Vertrauen in argentinische Amtsgeschäfte zu steigern.

Tatsächlich verlor die peronistische Regierungspartei um Cristina Fernández de Kirchner nach dem öffentlichkeitswirksam gescheiterten Attentatsversuch keine Zeit, aus CFK eine Art JFK zu machen. Noch am selben Abend schickte sich das peronistische Establishment an, das inzwischen als Magnizid betitelte Ereignis für seine Zwecke auszuschlachten: Präsident Alberto Fernández ernannte den 3. September zum Feiertag, die kirchneristische Basis rief für diesen Samstag zu Massenkundgebungen auf. Wird daraus ein weiteres Datum im politischen Kalender des Peronismus: der Tag der kugelfesten Cristina?

 


Autor: Ramiro Fulano
Bild Quelle: Charly Diaz Azcue/Comunicación Senado, Public domain, via Wikimedia Commons


Samstag, 03 September 2022

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