Football´s coming home

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Millionen begeisterter Fans bereiteten der argentinischen Nationalmannschaft am Dienstag einen triumphalen Empfang in Buenos Aires. Die deutsche Elf hingegen konnte nur hoffen, in wohlverdienter Obskurität unterzugehen.

Football´s coming home

Von Ramiro Fulano

Meine Damen und Herren, es war ein nie dagewesenes Spektakel: Sofort nach Montiels erlösendem Treffer im Elfmeterschießen, und damit dem Sieg über einen bis zur 70ten Minute völlig geistesabwesend spielenden amtierenden Weltmeister, füllte sich die Innenstadt von Buenos Aires rings um den Obelisken und entlang der Avenida 9 de Julio mit einer, wenn nicht zwei Millionen begeisterter Menschen.

Der Jubel, der auf den Schlussreffer zum Stand von 4:2 (3:3 nach Verlängerung) folgte, platzte in eine zum Bersten gespannte Blase der Stille, in der man mitten in der Innenstadt von Buenos Aires die buchstäbliche Stecknadel hätte fallen hören können. Und dieser Jubel war ohrenbetäubend.

Argentinien ist Weltmeister und das völlig zu Recht. Nach einem verkorksten WM-Auftakt gegen Saudi-Arabien hatte die Scaloneta, wie die Nationalmannschaft nunmehr heißt, sich in kürzester Zeit und mit einem überragenden Akt der Willenskraft zusammengerauft: Das ging doch wohl noch besser. Das war man sich und den Menschen zuhause schuldig. Und wenn schon nicht denen, dann zumindest Lionel Messi, diesem fussballerischen Jahrhundert-Genie.

Messi, aus einfachen, aber geordneten und liebevollen Verhältnissen, war mit 13 Jahren zusammen mit seinem Vater und der übrigen Familie von Rosario am Río Parana nach Barcelona ausgewandert, nachdem der FC die Kostenübernahme für seine Hormontherapie zugesagt hatte. Eine Entscheidung, vor der River Plate vermutlich zurückgeschreckt war, trotz vielversprechender Testspiele, aber ohne jemals die Gründe zu verraten.

Die Behandlung sollte einen genetisch bedingten Mangel des Wachstumsfaktors kompensieren. Ohne sie wäre der aktuell beste Fußballer der Welt wahrscheinlich nicht größer als 1,35 Meter geworden. Eine Behandlung in Argentinien war möglich, aber eine steile Weltkarriere ließ sich nur mit dem entsprechenden Verein im Rücken anstreben. River Plate ist zu wünschen, dass sie sich noch immer für ihre Entscheidung schämen, vor allem aber dafür, dass sie bei Messi Senior nicht einmal abgesagt haben.

Der Rest der Geschichte ist relativ bekannt: nach einer Spielzeit beim FC Barcelona stand fest, dass der Verein mit Messi auf eine Goldader gestoßen war. Erst, als er zu Paris St Germain wechselte, war klar, dass Barcelona nie wieder so sehr von Glück und Erfolg beschienen sein würde, wie zu Zeiten des Argentiniers mit den Krabbelbeinen. Oder, wie das deutsche Kommentariat es vornehmer ausdrückt: mit dem niedrigen Körperschwerpunkt.

Es folgte nach dem Erreichen fast aller nennenswerten sportlichen Erfolge 2014 die Niederlage in Verlängerung durch ein Tor von Götze. Ein Tor, das in Argentinien immer umstritten war und das Ergebnis dort bis heute in Frage stellt. Der Sieg, so die einhellige Meinung am Río de la Plata, hätte Argentinien gehört, insbesondere Messi, der sich gegen alle Hindernisse an die Weltspitze gespielt hatte und bereits in einem Atemzug mit Ronaldinho, seinem großen Rivalen, genannt wurde.

Messi war nach dem WM-Finale 2014 ein Nervenbündel, das im Selbstmitleid zu versinken drohte. Genau wie Mbappe 2022: Ein Star, der seine Sternstunde zu früh in Reichweite wähnte. Tatsächlich blieb Messi in Argentinien der gefühlte Sieger von 2014: Wie Maradona hat er aus dieser Sicht zweimal die größte Fifa-Trophäe errungen, und genau wie Diego im Abstand von acht Jahren.

Diesen Pokal brachten er und die Mannschaft heute in ein Land, das seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen hat. Sie standen zu zehntausenden am Flughafen Ezeiza und entlang der Autobahn in die Stadt. Sie standen in den Gärten von Palermo und fünf Kilometer die Avenida 9 de Julio entlang. Sie feierten rings um den Obelisken, auf der Avenida Corrientes und vor dem Teatro Colón. Sie feierten auf den Straßen ihres Viertels, auf den Plätzen und in den Fußgängerzonen. Und sie feierten nicht nur an weltberühmten Sehenswürdigkeiten, sondern überall, von Feuerland bis an die Grenze mit Bolivien, von den Anden bis zum Atlantik. Sie feierten entlang der Straßen, im Staub, aus dem sie kamen und in den sie eines Tages für immer zurückkehren müssen. Aber nicht, ohne wenigstens für einen Augenblick das Gefühl zu haben, an etwas teilgehabt und teilgenommen zu haben, das die Enge der eigenen Existenz sprengt oder zumindest übersteigt.

Es war ein kleines Stück Unsterblichkeit an diesem Tag dabei zu sein. Ein Tag, der einem ganzen Land sagt, dass es mehr ist als der andauernde Problem- und Pleitefall der Weltwirtschaft, eine Bananenrepublik, wo ein Korruptionsfall den nächsten jagt. Ein Tag, der den Menschen sagt, dass nicht sie allein Schuld an der politischen und ökonomischen Misere ihres Landes haben, obwohl ihnen genau das von politisch zweckdienlich interessierter Stelle gerne so eingetrichtert wird.

Wer diesem Bedürfnis misstraut – so wie der Dümmste, äh: Deutsche Fußball Bund – und wer nicht wahrhaben will, dass der Mensch mehr sein möchte als eine Kostenstelle, mehr ist als eine CO2- und Entsorgungsproblematik, wird nicht verstehen, worin die Größe des argentinischen Fußballfiebers besteht. Und was es diesem Land bedeutet, nach 36 Jahren gesagt zu bekommen, dass es kein nutzloses Drecksloch ist, und sei es auch nur für einen Tag und sei es auch von der Fifa.


Autor: Ramiro Fulano
Bild Quelle: Laia Solanellas, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons


Mittwoch, 21 Dezember 2022

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