Wird das Beben in der Türkei politische Folgen haben?Wird das Beben in der Türkei politische Folgen haben?
Im Hinblick auf die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Juni anstehen, dürfte das Abschneiden des staatlichen Krisenmanagements in diesen Tagen entscheidend zu deren Ausgang beitragen.
von Murat Yörük
Nach zwei schweren Erdbeben in der Nacht vom 6. Februar im Südosten der Türkei und im Norden Syriens ist das ganze Ausmaß der vermutlich schwersten Erdbebenkatastrophe seit dem Beben in der nordöstlich gelegenen Provinz Erzincan im Jahr 1939 noch nicht abschätzbar. Erste Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO gehen von über 23 Millionen Menschen in zehn Provinzen aus, die unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Allein in der am schwersten betroffenen Stadt Antakya in der Provinz Hatay sind über tausend Gebäude zerstört.
Mit der steigenden Zahl der Toten und der schwindenden Hoffnung, Tage später noch lebende Verschüttete zu bergen, obgleich ad-hoc-Rettungsmaßnahmen mit internationaler Unterstützung erfolgten, steigt auch die Zahl der zusammengebrochenen Gebäude. Hieß es anfangs noch, es seien etwa fünfhundert zerstört, so korrigierte bereits am Donnerstag der türkische Katastrophenschutz AFAD die Zahl auf vorläufig über 6.400, und unabhängige Beobachter rechnen mit weit über 11.000.
Folgenlose Warnungen
Überraschend ist die Katastrophe nicht. 70 Prozent der türkischen Landmasse sind akut erdbebengefährdet. Der türkische Katastrophenschutz AFAD geht von 15.000 Erdbeben mit einer Stärke über 4,0 seit Beginn der Zählung im Jahr 1900 aus. Über 600.000 Gebäude wurden seitdem zerstört, mehr als 90.000 Menschen starben. Programme im Zusammenhang mit »städtischen Angelegenheiten und risikoorientiertem Katastrophenmanagement« sind rar, nach offiziellen Angaben betragen die Ausgaben nur etwa 0,5 Prozent des Staatshaushalts.
Geologen bezeichnen das Zusammentreffen dreier tektonischer Platten als »Triple Junction«. Im betroffenen Gebiet im Südosten der Türkei treffen die anatolische, arabische und afrikanische Platte zusammen. Entsprechend warnen türkische als auch internationale Experten die türkische Regierung seit Jahren, allerdings folgenlos, so auch Hüseyin Alan, Vorsitzender der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie. »Keines der Ämter, weder das Präsidialamt noch die lokalen Verwaltungen, haben unseren Bericht zur Kenntnis genommen, in dem wir auf die Notwendigkeit von Bodenuntersuchungen vor dem Bau von Gebäuden hingewiesen haben«, so Alan im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.
AKP und der Bausektor
Das wirft bereits jetzt Fragen auf, zumal auch Gebäude zerstört wurden, die nur wenige Jahre alt sind, darunter Flughäfen, Krankenhäuser und sogar Häuser des türkischen Katastrophenschutzes AFAD selbst.
In der AKP-Ära der vergangenen einundzwanzig Jahre boomte der Bausektor, der die tragende Säule des Wirtschaftsaufschwungs war und wie kein anderer Sektor derart eng mit der AKP verbunden ist. Insbesondere im Osten und Süden der Türkei entstanden unter der Bauaufsicht der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI Tausende von Wohnblocks, von denen viele jetzt zerstört sind. Mitunter dürfte bei der jetzigen Katastrophe auch eine Rolle gespielt haben, dass die AKP in den vergangenen Jahren dazu übergegangen ist, Gebäude ohne Baugenehmigungen nachträglich gegen eine Zahlung zu legalisieren. Betroffen sind von dieser Amnestie in der gesamten Türkei über sieben Millionen solcher Häuser, was dem Staat Einnahmen von ca. 1,25 Mrd. Euro eingebracht hat. Naheliegend ist, dass Wachstum und Profit wichtiger waren als die Erdbebensicherheit.
Dafür spricht auch, was mit den Einnahmen aus der Erdbebensteuer in der Höhe von rund 43 Mrd. Euro geschehen ist, die nach dem Erdbeben von Izmit im Jahr 1999 unter der amtlichen Bezeichnung »private Transportsteuer« (Özel İletişim Vergisi) eingeführt wurde. Wurde sie offiziell eingeführt, um den Katastrophenschutz zu verbessern und erdbebengefährdete Gebäude ausfindig zu machen und gegebenenfalls zu verbessern, gehen Kritiker mittlerweile immer öfter von einer Zweckentfremdung der Gelder aus, wofür auch die Aussage des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek spricht, der 2011 in einem Video sagte: »Das Geld wird für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft und für die Bildung ausgegeben.«
Anstehende Wahlen
Im Hinblick auf die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Juni anstehen, aber sehr wahrscheinlich auf den 14. Mai vorgezogen werden sollen, dürfte das Abschneiden des staatlichen Krisenmanagements in diesen Tagen entscheidend zu deren Ausgang beitragen. Zwar sind die politischen Diskussionen nach der Katastrophe bislang noch sehr zurückhaltend, doch sollte es der türkischen Opposition in den kommenden Tagen und Wochen gelingen, auf eventuell vorhandene eklatante Mängel im Krisenmanagement hinzuweisen, wird die Chance auf einen Wahlsieg für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan noch enger als bislang ohnehin schon vermutet.
Eine besondere Rolle wird das Krisenmanagement des türkischen Katastrophenschutzes AFAD spielen, einer staatlichen Behörde, die erst 2009 gegründet wurde und alle Maßnahmen in diesen Tagen zentral koordiniert. Dessen verantwortlicher Generaldirektor für Katastrophenhilfe ist Ismail Palakoglu, dessen Lebenslauf nicht gerade von jener Erfahrung zeugt, die gerade jetzt benötigt wird: Absolvent einer Imam-Hatip-Schule, Masterabschluss an einer Theologischen Fakultät, langjährige Generaldirektion der Türkischen Religionsstiftung (DIYANET) und erst seit dem 11. Januar dieses Jahres auf seinem jetzigen Posten.
Die Erfahrung lehrt, dass solch schwere Katastrophen in der Türkei durchaus wahlentscheidend sein können. Das Staatsversagen etwa im August 1999 rächte sich bei den nächsten Wahlen.
Nach dem schweren Erdbeben von Gölcük versagten sämtliche Behörden, nicht einmal das Militär konnte koordinierte Bergungsarbeiten durchführen, weil das dazu nötige Equipment fehlte. Auch wenn die Bankenkrise von 2001, von der viele Staatsbanken betroffen waren und die fast zu einem Staatsbankrott geführt hätte, mindestens ebenso dazu beigetragen hatte, dass die drei damaligen Regierungsparteien nicht mehr ins Parlament einziehen konnten und aus den Wahlen im November 2002 die AKP von Erdoğan als Wahlsieger hervorging, so darf doch die Rolle des Bebens von 1999 nicht unterschätzt werden.
Erdoğan siegte 2002 auch deshalb, weil er damals auf das Staatsversagen hinwies, Aufschwung und Transparenz versprach, der Korruption unter anderem im Bausektor den Kampf ansagte und auf die Bauaufsicht setzte. Legendär ist seine Anklage, niemand dürfe solche Erdbebenkatastrophen mit »Schicksal« erklären. Genau derselbe Erdoğan erklärt nun, einundzwanzig Jahre später, in einer Rede am 8. Februar im Bezirk Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş, die Erdbeben und deren Folgen seien »Dinge, die im Schicksalsplan stehen«.
Es ist aber auch vorstellbar, dass die kommenden Wahlen überhaupt nicht stattfinden und stattdessen verschoben werden. In den betroffenen zehn Provinzen wurde bereits für drei Monate der Notstand ausgerufen. Zwar erlaubt die türkische Verfassung gemäß Artikel 78 nur im Kriegszustand anstehende Präsidentschaftswahlen um maximal ein Jahr zu verschieben, verlassen kann man sich aber auf solche Regularien nicht, zumal die dritte Kandidatur von Erdoğan bereits selbst verfassungswidrig ist und der türkische Staatspräsident sich schon allein mit seinem Antreten über die Verfassung stellt.
Dieser Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.
Autor: Mena-Watch
Bild Quelle: Symbolbild
Dienstag, 14 Februar 2023