Kampf gegen Einhörner: Die Iranisierung Algeriens

Kampf gegen Einhörner: Die Iranisierung Algeriens


Algerien sucht nicht nur außenpolitisch den Schulterschluss mit Ländern wie Katar, Iran und Russland, sondern wird diesen auch kulturell immer ähnlicher – Konformismus ist das oberste Gebot, alles, was als Abweichung erscheint, ist verboten

 Kampf gegen Einhörner: Die Iranisierung Algeriens

Von Stefan Frank

Algerien gehört weltweit zu den für Homosexuelle unsichersten Ländern. Es gibt Morde, die öffentlichen Hinrichtungen gleichen, so wie jener am Medizinstudenten Assil Belalta Anfang 2019. Die Täter schrieben mit dem Blut des Opfers »Er ist schwul« an eine Hauswand. Allein der bloße Verdacht auf Homosexualität kann für eine Gefängnisstrafe ausreichen, wie eine Massenverhaftung der Teilnehmer einer angeblichen »Schwulenhochzeit« im September 2020 bewies.

Jagd auf den Regenbogen

Seit Jahresbeginn führt Algeriens Handelsminister einen Krieg gegen den »Regenbogen«. Am 3. Januar erhielten Millionen Algerier auf ihren Mobiltelefonen eine SMS mit der Warnung: »Achten Sie auf Produkte, auf denen Zeichen und Farben sind, die gegen die guten Sitten verstoßen.« Absender war die Behörde von Handelsminister Kamel Rezig. Mit den »Farben« sind nach Ansicht von Beobachtern die von der LGBT-Bewegung verwendeten Regenbogenfarben gemeint. 

Das Thema hatte im November und Dezember während der Fußball-WM in Katar Schlagzeilen gemacht, als der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, Manuel Neuer, eine Armbinde mit dem Schriftzug »One Love« tragen wollte, die, obwohl sie nicht die Farben eines Regenbogens zeigte, als der Regenbogenfahne nachempfunden gedeutet werden konnte. Nachdem der Fußballweltverband FIFA dies verbot und mit sportlichen Konsequenzen drohte, verzichtete der DFB auf das Symbol.

Die zeitliche Koinzidenz lässt es als nicht ausgeschlossen erscheinen, dass der Aktionismus der algerischen Regierung eine Reaktion auf diese Debatte ist. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu, die der algerischen Regierung nicht unbedingt kritisch gegenübersteht, berichtete, die staatliche Kampagne solle noch bis 9. Dezember fortgeführt werden. Bürger werden dazu aufgefordert, verdächtige Waren bei einer kostenlosen Regierungshotline zu melden.

Erste Erfolge konnte Regenbogenjäger Rezig bereits vermelden: 38.542 Kuscheltiere, Spielzeuge und Schulartikel seien beschlagnahmt und vernichtet worden, darunter offenbar zahlreiche Einhörner in Regenbogenfarben.

Rezig vertraut nicht allein auf Denunzianten aus der Bevölkerung. Auf Bezirksebene sind Handelskommissare damit betraut, das Sortiment von Geschäften zu kontrollieren und Händler darauf aufmerksam zu machen. Zwar kontrolliere die Regierung laut Anadolu in der Theorie sämtliche Ein- und Ausfuhren, doch sei das Land »vom informellen Sektor geplagt«, sodass sich »die Ankunft dieser Produkte daher dieser Kontrolle entzieht, da sie größtenteils von Schmugglern transportiert werden«.

Zur Unterstützung der Kampagne mobilisiert Rezig Berichten zufolge auch den Allgemeinen Verband der algerischen Händler und Handwerker (UGCAA), die Bildungsdirektion, die Sicherheitsdienste, muslimische Pfadfinder und Verbraucherschutzverbände. Sie alle fahnden nun fieberhaft nach Einhörnern, bunten Luftschlangen und niedlichen Häschen.

Einer von ihnen, ein älterer Herr, spricht zu den in einem Klassenraum sitzenden Kindern im Alter von etwa sechs Jahren über Farben des Regenbogens. Er lässt die Kinder die Namen der Farben wiederholen und erklärt ihnen anschließend, dass sie nicht zusammengefasst sein dürften: »Jede Farbe muss für sich getrennt sein. Blau. Rot. Nicht zusammen.« Das Zusammenbringen all dieser Farben sei eine »schlechte Sache«. »Wir dürfen sie nicht verwenden, wenn sie zusammengebracht werden. Wenn ihr sie in einem Geschäft seht, kauft sie nicht. Wer sie zu Hause hat, wirft sie weg.«

Schon vergangenes Jahr war bekannt geworden, dass die algerischen Behörden gegen Ausgaben des Koran vorgehen, die auf buntem Papier gedruckt sind. 81 Exemplare, die angeblich in den »Farben von LGBT« gedruckt waren, seien von der Polizei beschlagnahmt und vernichtet worden, hieß es. 

Dieser Koran auf buntem Papier ist auch bei Amazon in den USA erhältlich und wird dort von Kunden sehr gelobt. Ein Nutzer schreibt etwa, einen »so bunten Koran« zu haben, steigere den »Enthusiasmus«, mit dem er »die Worte Allahs rezitiert«. Dank des farbenfrohen Papiers lese er nun »mehr Seiten pro Tag« als früher. Bislang hat sich offenbar kein einziger muslimischer Gläubiger beschwert. Warum auch? Es ist ja niemand gezwungen, diesen Artikel zu kaufen. In Algerien aber will man solche Entscheidungen nicht dem Einzelnen überlassen. 

Auf der jordanischen Nachrichtenwebsite Albawaba ist ein Twitter-Video zu sehen, das Uniformierte zeigen soll, die in einem algerischen Kaufhaus oder Supermarkt mit Hilfe von grafischem Anschauungsmaterial die Kunden darüber aufklären, was ein Regenbogen und was die LGBT-Fahne ist und bei welchen Produkten sie Gefahr laufen, auf Regenbogenfarben zu stoßen: zu sehen sind etwa Abbildungen von Babyspielzeug, Buntstiften, künstlich gefärbten Dauerlutschern, Mädchenschuhen und Handtaschen.

Die Paranoia erstreckt sich auch auf andere kulturelle Bereiche. Die 45-jährige Soraya Mouloudji ist seit einem Jahr Ministerin für Kunst und Kultur. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war die Abschaffung des Französischen in ihrer Behörde. Nun hat sie ein Dekret veröffentlicht, das »unmoralische Lieder« unter Strafe stellt. Diese würden auf »anarchische Weise verbreitet« und könnten die »moralischen Werte verschiedener sozialer Gruppen, insbesondere junger Menschen, beschädigen«, heißt es. Auch seien sie verantwortlich für »die Verbreitung von Gewalt und Kriminalität«, und zwar »auf der Straße, innerhalb der Familie oder sogar im schulischen und universitären Umfeld«.

Weiter behauptet das Ministerium, dass solche Lieder »den Konsum von Drogen fördern und zur illegalen Auswanderung ermuntern«. Unter Hinweis darauf, dass das algerische Gesetz »jeden Angriff auf die öffentliche Moral, Gepflogenheiten, Prinzipien und Werte, die unsere Identität ausdrücken«, verbiete, nimmt das Ministerium für sich in Anspruch, alles zu bekämpfen, was »den Werten und Prinzipien der algerischen Gesellschaft schadet«.


Dieser Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.

Autor: MENA Watch
Bild Quelle: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons


Freitag, 03 März 2023

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