In der Türkei gärt es. Seit der Verhaftung des ehemaligen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu vor gut einer Woche ziehen täglich Menschen durch die Straßen – in Istanbul, Ankara, Izmir und darüber hinaus. Es sind keine vereinzelten Kundgebungen, sondern ein flächendeckender Aufschrei, der an die Gezi-Proteste von 2013 erinnert. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch schlagen Alarm: Die staatliche Antwort auf die Demonstrationen sei ein „Angriff auf die Grundpfeiler der Demokratie“. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie ein Ende der Repressionen und werfen der Regierung vor, Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht mit Füßen zu treten.
Der Auslöser der Unruhen, İmamoğlu, war nicht nur Bürgermeister einer Metropole, sondern auch der Hoffnungsträger der Opposition gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Seine Festnahme, gefolgt von der seines Anwalts, wird von der CHP als politischer Schachzug gewertet – ein Versuch, den stärksten Rivalen vor den nächsten Wahlen auszuschalten. Die Partei spricht von einem „verdeckten Staatsstreich“. Doch die Proteste gehen über İmamoğlu hinaus: Sie sind ein Ausdruck tiefer Frustration über den Zustand der türkischen Demokratie.
Die Sicherheitskräfte reagieren mit Härte. Berichte über Tränengas, Wasserwerfer und den Einsatz von Schlagstöcken häufen sich. In mehreren Städten wurden Versammlungen pauschal verboten, Demonstranten festgenommen – laut Innenministerium über 1.800 seit Beginn der Proteste. Gleichzeitig wird die Presse mundtot gemacht: Kritische Sender wie Sözcü TV wurden mit Sendeverboten belegt, Journalisten klagen über Einschüchterung. Menschenrechtsgruppen sehen darin ein Muster: Erdoğan festige seine Macht, indem er dissentierende Stimmen unterdrückt.
Der Präsident selbst bleibt unnachgiebig. Er nennt die Proteste „Provokationen“ und die Demonstranten „Handlanger ausländischer Kräfte“. Seine Rhetorik ist nicht neu – doch die Intensität der aktuellen Krise schon. Die Opposition, angeführt von CHP-Chef Özgür Özel, fordert vorgezogene Wahlen und die Freilassung İmamoğlus. „Wir lassen uns nicht länger zum Schweigen bringen“, sagte Özel in einer Rede in Ankara. Die Demonstranten, die seit Tagen ausharren, scheinen das zu unterstreichen.
Die Lage wirft Fragen auf: Wie stabil ist die türkische Demokratie noch? Unter Erdoğan hat das Land eine Erosion demokratischer Institutionen erlebt – von der Einschränkung der Justiz bis zur Kontrolle der Medien. Die Proteste könnten ein Wendepunkt sein, doch die Regierung zeigt keine Bereitschaft zum Dialog. Stattdessen droht eine weitere Eskalation, während die internationale Gemeinschaft besorgt zusieht. US-Außenminister Marco Rubio sprach von „beunruhigenden Signalen“ aus einem wichtigen NATO-Partnerland, das in Krisenregionen wie Syrien und der Ukraine eine Schlüsselrolle spielt.
Die Türkei steht vor einer Zerreißprobe. Die Demonstranten kämpfen nicht nur für İmamoğlu, sondern für das Recht, gehört zu werden. Ob Erdoğan diesen Druck aushält oder ob die Proteste eine echte Veränderung erzwingen, bleibt offen. Klar ist: Der Zustand der Demokratie hängt am seidenen Faden – und die Welt beobachtet, ob er reißt.