Rena Quint: Ein Leben gegen das Vergessen des HolocaustsRena Quint: Ein Leben gegen das Vergessen des Holocausts
Rena Quint, Holocaust-Überlebende, erzählt am Vorabend des Holocaust-Gedenktags ihre Geschichte – von den Ghettos Polens bis zur Befreiung in Bergen-Belsen. Mit 89 Jahren kämpft sie unermüdlich gegen das Vergessen, während die Zeit die letzten Zeugen fortnimmt. Ihre Botschaft: Erinnerung ist Widerstand.
Am Mittwoch, dem 23. April 2025, stand Rena Quint, eine 89-jährige Holocaust-Überlebende, vor einem Publikum in Jerusalem, um ihre Geschichte zu erzählen. Bei einer Veranstaltung von Zikaron BaSalon und dem Jerusalem Press Club sprach sie mit einer Klarheit, die die Jahrzehnte überdauerte, über die Schrecken ihrer Kindheit und ihren unerschütterlichen Willen, die Erinnerung an den Völkermord der Nazis wachzuhalten. Nur einen Tag vor dem israelischen Holocaust-Gedenktag, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, traf ihre Botschaft die Zuhörer wie ein Schlag: „Solange ich lebe, werde ich erzählen.“ Doch die Sorge, dass die Stimmen der Überlebenden bald verstummen könnten, lastet schwer – besonders nach einem Artikel der Jerusalem Post, der das Verschwinden der letzten Zeitzeugen in den kommenden Jahrzehnten prognostiziert.
Rena, geboren als Freida Lichtenstein, war gerade drei Jahre alt, als 1939 die Nazi-Truppen in ihre Heimatstadt Piotrków Trybunalski in Polen einfielen. Die Bilder von Panzern, Gewehren und den „schönen“ Uniformen der Soldaten prägten sich in ihr kindliches Gedächtnis ein. Doch bald folgte die Grausamkeit: Das jüdische Viertel wurde abgeriegelt, ein Ghetto entstand. Familien aus der Region wurden zusammengepfercht, ohne Nahrung, ohne Medizin. Krankheiten grassierten, Hunger zehrte an den Menschen. Quints Vater wurde zur Zwangsarbeit in eine Glasfabrik geschickt, während die Familie zurückblieb.
Eines Nachts wurde die damals kleine Freida von Nazi-Soldaten aus dem Schlaf gerissen. Zusammen mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern wurde sie in die Synagoge getrieben. Inmitten des Chaos bemerkte sie einen Mann, der ihr von einer Hintertür aus zuwinkte. Wie sie ihrer Mutter entkam, weiß sie nicht mehr – die Erinnerung ist ein Nebel. Doch sie folgte dem Mann und entging so dem Schicksal ihrer Familie, die nach Treblinka deportiert und ermordet wurde. Der Mann brachte sie zur Glasfabrik, wo ihr Vater und andere Arbeiter sie versteckten, indem sie sie als Jungen verkleideten. Die Hitze, die knurrenden Hunde, die Angst vor Entdeckung – all das begleitete sie, während sie ums Überleben kämpfte.
Die Erinnerungen an die Deportation nach Bergen-Belsen sind ebenso bruchstückhaft wie lebendig. In Viehwaggons, ohne Wasser oder Nahrung, wurden sie Richtung Konzentrationslager geschickt. Der Gestank, die Enge, die Hitze – viele starben schon auf dem Weg. In Bergen-Belsen trennte man Männer und Frauen. Ihr Vater, unfähig, sie weiter zu verstecken, vertraute sie einer Lehrerin an. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah. Der Tod war allgegenwärtig: Hunderte starben täglich an Hunger, Typhus oder Diphtherie. Quint selbst erkrankte schwer, wie sie später aus alten Krankenakten erfuhr. Doch am 15. April 1945 kamen britische Soldaten und brachten die Befreiung. Für viele kam sie zu spät – Tausende starben selbst nach der Befreiung an den Folgen der Unterernährung oder Krankheiten.
Nach Bergen-Belsen kam Quint in ein Flüchtlingslager in Schweden, bevor sie 1946 von einer Familie adoptiert wurde, die in die USA auswanderte. Unter falschem Namen – dem einer verstorbenen Tochter der Familie – betrat sie Ellis Island. In Amerika lernte sie langsam, wieder ein Kind zu sein. Doch der Verlust begleitete sie. Als ihre Adoptivmutter Anna starb, verstand sie nicht, dass man über den Tod weint – im Lager war der Tod alltäglich, Tränen sinnlos. Später wurde sie von der kinderlosen Familie Globe adoptiert, die sie wie ihr eigenes Kind liebte. Dennoch blieb die Angst: Als sie den kleinen Hund der Familie fürchtete, glaubte sie, die Globes könnten das Tier mehr lieben als sie. Heute lacht sie darüber, doch damals war es die Angst eines Kindes, das zu oft verlassen wurde.
„Jedes Mal, wenn meine Mutter starb, kam eine andere Frau an ihre Stelle“, sagt Quint. Sechs Mütter, sechs Identitäten – jede von ihnen gab ihr Liebe und Schutz, und lehrte sie, dass niemand allein durch die Welt geht. In den USA traf sie ihren Mann, Rabbi Emmanuel Quint, mit dem sie vier Kinder bekam. Ihre Familie wuchs auf 26 Enkel und 56 Urenkel. 1984 wanderte sie nach Israel aus, wo sie bis heute in Jerusalem lebt.
1989 kehrte Quint nach Polen zurück, um die Fragmente ihrer Vergangenheit zu finden. Ihr Elternhaus stand noch, eine Mesusa schmückte die Tür. Sie fand Judaica, ein Ehevertrag ihrer Eltern – doch das Gesicht ihrer Mutter blieb ein Rätsel. Die Synagoge, in der sie ihre Mutter zum letzten Mal sah, war von Einschüssen gezeichnet, doch leer: Die jüdische Gemeinde existierte nicht mehr.
Seit ihrer Ankunft in Israel arbeitet Quint mit Yad Vashem, um die Erinnerung an die Opfer des Holocausts zu bewahren. Sie sprach mit Würdenträgern wie Joe Biden und wird bald den neuen US-Botschafter Mike Huckabee treffen. Ihre Dankbarkeit gegenüber den USA ist groß, doch zurückkehren wird sie nie – selbst wenn Israel in Gefahr wäre. Die Deutschen vergibt sie nicht, doch sie erkennt an: „Die Menschen ändern sich.“ Deutschland, einst Feind, ist heute ein enger Verbündeter Israels.
Quint sieht Parallelen zwischen dem Holocaust und dem Massaker vom 7. Oktober 2023. Beide seien von blindem Hass getrieben, auch wenn die Methoden unterschiedlich waren. Sie fordert ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln. „Der Unterschied ist: Heute haben wir einen Staat. Heute haben wir eine Armee.“ Doch sie warnt: So wie manche den Holocaust trotz aller Beweise leugnen, zweifeln andere heute die Gräueltaten der Hamas an. Erinnerung ist für sie Widerstand gegen solche Verleugnung.
Gemeinsam mit der Journalistin Barbara Sofer schrieb Quint ihre Geschichte in dem Buch A Daughter Of Many Mothers auf. Zwei Jahre ihres Lebens konnten nicht dokumentiert werden, doch die Gefühle – der Geruch des Todes, die Kälte des Lagers – bleiben. Ein Psychologe sagte ihr einst, sie habe „genug erinnert“. Doch für Quint ist das Erinnern eine Pflicht. Zikaron BaSalon, eine Initiative, die Holocaust-Gedenken in Wohnzimmern weltweit fördert, trägt dazu bei, diese Geschichten lebendig zu halten. Doch Quint fordert mehr: Die Erinnerung müsse eine Fackel sein, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Rena Quints Stimme ist ein Mahnmal. Sie spricht für die Millionen, die schwiegen. Sie spricht für die Zukunft, damit „Nie wieder“ mehr als ein Versprechen ist. Ihre Geschichte ist ein Aufruf: Hört zu, erinnert euch, handelt – bevor die letzten Zeugen verstummen.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Screenshot Youtube
Mittwoch, 23 April 2025