Wenn die Zeugen schweigen: Wird die Welt den Holocaust vergessen?

Wenn die Zeugen schweigen: Wird die Welt den Holocaust vergessen?


Die letzten Holocaust-Überlebenden sterben – und mit ihnen droht die Erinnerung an das größte Verbrechen der Geschichte zu verblassen. Antisemitismus steigt, Leugnung wird lauter, und die Jugend scheint gleichgültig. Doch die Juden werden nicht vergessen.

Wenn die Zeugen schweigen: Wird die Welt den Holocaust vergessen?

Die Stimmen der Holocaust-Überlebenden, einst ein leuchtendes Mahnmal gegen Hass und Vergessen, werden leiser. Ein Bericht der Conference on Jewish Material Claims Against Germany vom 22. April 2025 legt die schmerzhafte Wahrheit offen: In den nächsten zehn Jahren werden 70 % der Überlebenden sterben, in fünfzehn Jahren 90 %. Diese Prognose ist keine Überraschung, doch sie trifft wie ein Schlag. Bald wird es niemanden mehr geben, der die Schrecken der Ghettos, der Todeslager, der Gaskammern aus erster Hand erzählen kann. Und mit diesem Verlust wächst die Angst: Wird die Welt den Holocaust vergessen? Wird das „Nie wieder“, das die westliche Welt nach 1945 schwor, zur leeren Phrase, während Antisemitismus weltweit an Stärke gewinnt?

Die Zahlen sind alarmierend. Laut einer Umfrage der Claims Conference im Januar 2025 fehlt in acht Ländern grundlegendes Wissen über den Holocaust. 46 % der französischen, 15 % der rumänischen, 14 % der österreichischen und 12 % der deutschen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren haben noch nie vom Holocaust gehört. Noch erschütternder: 16 % der Amerikaner, 17 % der Briten, bis hin zu 25 % der Franzosen und Österreicher bezweifeln, dass der Holocaust so stattgefunden hat, wie historisch belegt. Gleichzeitig meldet die Anti-Defamation League einen Anstieg antisemitischer Vorfälle um 5 % allein in den USA. In Europa sind Holocaust-Gedenkstätten regelmäßig Ziel von Vandalismus – beschmiert mit roter Farbe oder anti-israelischen Parolen. Diese Taten sind kriminell, doch längst nicht so verpönt, wie man hoffen würde.

Der Holocaust war einst ein moralischer Anker, ein Schutzwall gegen Antisemitismus. Die Geschichten der Überlebenden – von Menschen wie Rena Quint, die als Kind die Hölle von Bergen-Belsen überlebte – erinnerten die Welt daran, wohin Hass führt. Doch ohne diese Stimmen droht der Damm zu brechen. Antisemiten, ob von rechts, links oder aus islamistischen Kreisen, wissen: Um ihren Hass zu legitimieren, müssen sie die Erinnerung an den Holocaust auslöschen oder verzerren. Für jihadistische Ideologien existiert der Holocaust entweder nicht, weil das Leiden der Juden nicht anerkannt werden soll, oder er wird als Vorbild für neue Gräueltaten gefeiert. Liberale, die den Holocaust universalisieren, vermeiden oft die Erwähnung der Juden, um niemanden zu „beleidigen“. Die radikale Linke nutzt den Holocaust nur als Waffe gegen politische Gegner, während sie Juden als „privilegiert“ diffamiert. Und die sogenannte „woke Rechte“, angeführt von selbsternannten Provokateuren, stellt alles infrage – von der Heldentat Churchills bis zur Wahrheit des Holocausts – und fällt in alte Muster der Sündenbock-Suche zurück.

Die jüngeren Generationen, Gen Z und Alpha, scheinen den moralischen Ernst des Holocausts nicht mehr zu spüren. Für viele ist es nur ein weiteres Kapitel im Geschichtsbuch, nicht relevanter als der Amerikanische Bürgerkrieg. In Europa klagen manche, sie hätten „genug“ vom Holocaust gehört und wollten „weitergehen“. Hier liegt ein Dilemma: Mehr Bildung stößt auf Widerstand, weil sie als „aufdringlich“ empfunden wird, doch ohne Bildung droht Vergessen oder Verzerrung. Die nächste Generation, Gen Beta, wird vielleicht nie einen Überlebenden treffen. Wird der Zweite Weltkrieg für sie so fern sein wie die Kreuzzüge?

Die Unterstützung für das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023, gepaart mit der Leugnung der begangenen Gräueltaten, zeigt, wie brüchig das „Nie wieder“ geworden ist. Auf Social Media, in Podcasts, an Universitäten – überall bröckelt das Verständnis für den Holocaust. Weiße Nationalisten hissen wieder Nazifahnen in Schweden oder marschieren durch Nashville. Der Hass, der einst sechs Millionen Juden ermordete, lebt weiter, angefacht von Unsicherheiten und ideologischen Extremen.

Doch inmitten dieser Dunkelheit gibt es Hoffnung – und sie kommt von den Juden selbst. Als Rena Quint gefragt wurde, ob sie fürchte, dass die Geschichten der Überlebenden mit ihrem Tod verblassen, verwies sie auf eine Legende: Napoleon soll beim Anblick von Juden, die am Tisha Be’av um ihren Tempel trauerten, gesagt haben: „Ein Volk, das 2000 Jahre für sein Land weint, wird es zurückerhalten.“ Die Juden, so Quint, vergessen nie. Sie erinnern sich an die Knechtschaft in Ägypten, an Hamans Völkermordpläne, an die Verfolgung durch die Hellenisten, an die Flüsse Babylons. Imperien kamen und gingen, doch die jüdische Erinnerung blieb.

Die Juden sind nicht nur das Volk des Buches, sondern das Volk der Erinnerung. Ihre Geschichten, von Generation zu Generation weitergegeben, sind ein lebendiges Archiv. Als die Überlebenden sterben, endet nicht die Geschichte, sondern nur ihre Bürde. Museen, Gedenkstätten, Archive – sie sind wichtig, doch nichts ersetzt die Kraft der erzählten Erinnerung. Zikaron BaSalon, eine Initiative, die Holocaust-Gedenken in Wohnzimmern weltweit fördert, zeigt, wie diese Fackel weitergetragen wird. Familien, Schulen, Gemeinden – sie alle müssen die Verantwortung übernehmen.

Israel, als Staat der Juden, ist ein lebendiges Zeugnis dieser Erinnerung. Anders als vor 80 Jahren haben die Juden heute eine Armee, eine Heimat, eine Stimme. Der Holocaust ist nicht nur eine Wunde, sondern ein Auftrag: Nie wieder wehrlos zu sein. Doch die Welt muss mithelfen. Bildung muss mutiger werden, ohne Angst vor Ressentiments. Politiker müssen Antisemitismus entschlossener bekämpfen, ohne Rücksicht auf ideologische Empfindlichkeiten. Und jeder Einzelne muss zuhören, lernen, erinnern.

Die Welt mag den Holocaust vergessen. Doch die Juden werden es nicht. Sie tragen die Narben, die Geschichten, die Lektionen in ihren Herzen. Und solange sie erzählen, wird „Nie wieder“ mehr als ein Versprechen sein – es wird ein Schwur, der die Dunkelheit besiegt.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Bernhard Walter - Yad Vashem: "Jews undergoing selection on the ramp. Visible in the background is the famous entrance to the camp. Some veteran inmates are helping the new comers.", Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39226962


Donnerstag, 24 April 2025

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