Wenn Menschenrechte zur Waffe werden – das Ende von Amnesty in IsraelWenn Menschenrechte zur Waffe werden – das Ende von Amnesty in Israel
Nach sechs Jahrzehnten hat Amnesty International seinen israelischen Zweig geschlossen. Nicht wegen Korruption oder Inkompetenz, sondern weil er darauf bestand, auch israelische Opfer sichtbar zu machen. Der Fall zeigt, wie sehr universelle Werte zur politischen Munition verkommen sind.
Sechzig Jahre lang existierte Amnesty Israel, eine der ältesten Landesvertretungen der weltweiten Organisation. Nun ist es vorbei. Die Büros sind geschlossen, die Mitarbeiter entlassen, die Akten versiegelt. Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Die Kündigung kam nicht von innen, sondern von oben. Der Weltverband hat seinen israelischen Ableger suspendiert und faktisch in die Bedeutungslosigkeit geschickt. Der Grund: Der Zweig in Jerusalem wollte nicht länger schweigen, wenn Terroranschläge gefeiert, Hamas-Fahnen geschwenkt und Massaker verharmlost werden.
Die ehemalige Direktorin Muli Malkaer und ihr Stellvertreter, der Sozialwissenschaftler Yariv Mohar, berichten, wie sich der Riss zwischen der Zentrale und der israelischen Sektion nach dem 7. Oktober vertiefte. Amnesty International veröffentlichte zwar zu Beginn ein offizielles Statement, das den Überfall der Hamas auf israelische Dörfer, Städte und ein Musikfestival „als schwerwiegenden Menschenrechtsbruch“ verurteilte. Doch schon nach wenigen Tagen verlagerte sich der Schwerpunkt fast ausschließlich auf die israelische Militärreaktion in Gaza. Die Opfer in Israel verschwanden aus den Berichten, aus den Kampagnen, aus den Bildern.
Die israelische Sektion versuchte gegenzuhalten. Zwei Positionspapiere entstanden: eines über die systematische Entmenschlichung von Palästinensern in Israel, ein weiteres über die Entmenschlichung von Juden in westlichen Universitäten und Demonstrationen. Das erste durfte bleiben, das zweite musste weg. Begründung aus London: Es könne „den israelischen Narrativ stärken“. Wer also auf antisemitische Parolen wie „From the river to the sea – by all means necessary“ hinwies, störte. Denn nicht das Prinzip der Menschenrechte bestimmte den Maßstab, sondern die Sorge, das „falsche“ Lager könne profitieren.
Spätestens mit dem „Genozid-Bericht“ Ende 2024 war der Bruch nicht mehr zu kitten. Schon während der Recherchen sei klar gewesen, erzählen Malkaer und Mohar, dass das Ergebnis feststand: Israel begehe Völkermord. Mehr als zweihundert Seiten mit Satellitenbildern, Zeugenaussagen und Zitaten israelischer Politiker sollten das Urteil untermauern. Aber die Richtung war vorgegeben. Amnesty Israel warnte: Der juristische Begriff „Genozid“ setzt nachweisbare Absicht voraus – das planvolle Ziel, eine Bevölkerungsgruppe zu vernichten. Ignoranz, Brutalität, Zynismus: all das mag man Israel vorwerfen. Doch eine gezielte Vernichtungsabsicht? Dafür fehlten die Beweise. Die Bedenken verhallten. Das Label „Genozid“ war politisch zu wertvoll, um es nicht zu benutzen.
Noch deutlicher wurde die Einseitigkeit, wenn es um Hamas ging. Kritische Stimmen aus Gaza, die sowohl Israel als auch das Terrorregime anprangerten, wurden blockiert. Ein palästinensischer Aktivist, der Hamas für Unterdrückung und Korruption verantwortlich machte, durfte auf Einladung von Amnesty Israel sprechen. Die Zentrale verhinderte es: „schlechter Ruf“. Hamas selbst verschwand fast völlig aus den Amnesty-Kampagnen. Dass die Terrororganisation Lebensmittel stiehlt, Hilfsgüter zweckentfremdet und die Bevölkerung als menschliches Schutzschild missbraucht – all das wollte man nicht thematisieren. Begründung: Keine „gesicherten Beweise“. In Wahrheit: Man wollte kein „propagandistisches Geschenk“ an Israel liefern.
Das Muster ist durchschaubar. Amnesty International, einst gegründet, um gewaltlos für politische Gefangene zu kämpfen, ist längst zu einem Akteur im politischen Meinungskrieg geworden. Wer die israelische Sektion mit Vorwürfen wie „anti-palästinensischem Rassismus“ attackiert, benutzt Vokabeln, die sonst Regierungen vorgeworfen werden. Doch hier diente es allein dem Zweck, abweichende Stimmen mundtot zu machen. Dass es keine transparente Untersuchung, kein faires Verfahren, nicht einmal ein internes Gespräch gab – bezeichnend. Während Amnesty weltweit Staaten für Schauprozesse kritisiert, wurde im eigenen Haus auf genau diese Weise ein unbequemer Zweig kaltgestellt.
Die Frage ist: Warum? Warum verzichtet eine globale NGO auf eine traditionsreiche Niederlassung, die mitten im Brennpunkt des Konflikts arbeitet? Die Antwort liegt tiefer. Amnesty fürchtet den eigenen Aktivisten-Nachwuchs. In westlichen Universitäten gilt Israel als Inbegriff kolonialer Unterdrückung, als Teil des „imperialistischen Westens“. Wer diesem Bild widerspricht, riskiert Shitstorms, Mitgliederverluste, Spendenausfälle. Menschenrechte werden dadurch nicht mehr an der Tat gemessen, sondern an der Frage: Schadet oder nützt es dem „Kampf gegen Israel“?
Damit verrät die Organisation den Kern ihrer eigenen Existenz. Universelle Menschenrechte, so das Versprechen, gelten für alle Menschen – unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Nationalität. Doch im israelisch-palästinensischen Konflikt wurden sie zur Einbahnstraße. Wenn israelische Geiseln kaum Erwähnung finden, wenn Massaker an Juden als „Randthema“ abgetan werden, wenn der Terror von Hamas sprachlich vernebelt wird, dann haben wir es nicht mehr mit einem Menschenrechtsdiskurs zu tun, sondern mit politischer Instrumentalisierung.
Für Israel ist das eine doppelte Herausforderung. Zum einen verliert der Staat einen Gesprächspartner, der auch kritisch, aber dennoch aus einer israelischen Perspektive agierte. Zum anderen zeigt es, dass auf der internationalen Bühne längst nicht mehr der Maßstab des Rechts, sondern der der Lautstärke gilt. Wer am lautesten „Genozid“ ruft, gewinnt Aufmerksamkeit – ungeachtet juristischer Genauigkeit. Wer Hamas kritisiert, läuft Gefahr, als „Rassist“ gebrandmarkt zu werden.
Für die Palästinenser wiederum bedeutet diese Entwicklung keineswegs einen Sieg. Denn eine NGO, die Hamas nicht beim Namen nennt, hilft am Ende nicht der Zivilgesellschaft in Gaza, sondern den Unterdrückern. Wenn Lebensmittel gestohlen, Aktivisten verfolgt und Oppositionelle gefoltert werden, doch Amnesty schweigt, dann werden die Leidtragenden doppelt verraten: von ihren eigenen Herrschern und von jenen, die eigentlich ihre Fürsprecher sein sollten.
So bleibt das Ende von Amnesty Israel mehr als nur ein Verwaltungsakt. Es ist ein Symptom. Ein Symptom für die Erosion universeller Werte, die durch Ideologie ersetzt werden. Ein Symptom für den schleichenden Verlust moralischer Glaubwürdigkeit im internationalen NGO-Sektor. Und ein Symptom für die Blindheit gegenüber jüdischem Leid, das nicht ins Raster passt.
Wer heute noch von Menschenrechten spricht, muss sich fragen lassen: Meinen wir wirklich alle Menschen – oder nur die, die in unser Weltbild passen? Amnesty International hat mit seiner Entscheidung ein verheerendes Signal gesetzt. Es lautet: Jüdisches Leid ist zweitrangig. Und es bedeutet: Der Begriff „Menschenrechte“ ist längst nicht mehr universal, sondern politisch gefärbt.
Israel sollte daraus seine Konsequenzen ziehen. Der moralische Kampf um Begriffe ist nicht minder wichtig als der militärische Kampf an den Grenzen. Wer den Diskurs aufgibt, überlässt das Feld jenen, die das Banner der Menschenrechte missbrauchen, um Hass zu legitimieren. Der Fall Amnesty Israel ist damit kein Fußnotenskandal, sondern ein Fanal: Menschenrechte sind entweder universell – oder sie sind keine mehr.
Autor: Bernd Geiger
Bild Quelle: Von Richard Potts - https://www.flickr.com/photos/cascade_of_rant/5437953172/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=133890815
Samstag, 16 August 2025