Nichts gelernt aus 1938? Überlebende der Reichspogromnacht schlagen Alarm

Nichts gelernt aus 1938? Überlebende der Reichspogromnacht schlagen Alarm


87 Jahre nach der Reichspogromnacht schlagen Holocaust-Überlebende Alarm: Synagogen werden wieder angegriffen, jüdische Kinder bedroht, alte Muster kehren zurück. Ihre Botschaft: Die Geschichte darf sich nicht wiederholen – und nur ein starkes Israel kann das verhindern.

Nichts gelernt aus 1938? Überlebende der Reichspogromnacht schlagen Alarm

In Jerusalem, im Licht der Glasfenster der Großen Synagoge, sitzen drei Männer, deren Leben die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte überdauert haben. Walter Bingham, 101 Jahre alt, George Shefi, 94, und Paul Alexander, 87 – drei Zeugen jener Nacht vom 9. November 1938, als die Synagogen Deutschlands in Flammen standen und die Welt den Atem anhielt. Sie leben heute in Israel, doch die Erinnerung lässt sie nicht los. Und sie blicken mit wachsender Sorge auf die Gegenwart.

„Wir leben in einer Zeit, die 1938 gleicht“, sagt Bingham leise. „Synagogen werden wieder angezündet, Menschen auf offener Straße bedroht. Ich erkenne vieles von damals wieder.“

Bingham war 14 Jahre alt, als er in Mannheim zur Schule ging – in einem Gebäude, das auch als Synagoge diente. Am Morgen nach der Pogromnacht war es nur noch eine rauchende Ruine. Feuerwehrleute standen daneben und ließen sie abbrennen, während sie die Nachbarhäuser schützten. Kurz darauf wurde Binghams Vater nach Polen deportiert, wo er im Warschauer Ghetto starb. Seine Mutter sah er nie wieder. Er selbst überlebte, weil er im Rahmen der britischen Kindertransporte nach England gebracht wurde.

87 Jahre später zieht er eine bittere Parallele: Die Geschichte wiederholt sich nicht – aber sie reimt sich gefährlich.

Auch George Shefi teilt diese Angst. Als Junge in Berlin sah er, wie auf Parkbänken plötzlich gelbe Streifen erschienen – „Nur für Juden“. Nach der Pogromnacht durfte er drei Tage lang das Haus nicht verlassen. Danach sah er auf den Straßen zerstörte Läden und johlende Menschenmengen. Auch er wurde auf einen Kindertransport nach England geschickt. Seine Mutter wurde später in Auschwitz ermordet.

Heute spricht Shefi vor Schulklassen in Deutschland und anderswo – über 12.000 Schüler haben ihm zugehört. Sein Appell an die junge Generation ist klar: „Ihr seid nicht schuld an dem, was eure Großeltern taten. Aber ihr tragt Verantwortung, dass es nie wieder passiert.“

Paul Alexander war noch kein Jahr alt, als die Pogromnacht sein Leben rettete. Weil jüdische Gemeinden in England nach den Novemberpogromen begriffen, dass Juden in Deutschland in Lebensgefahr waren, wurde er wenige Monate später in Sicherheit gebracht – einer der letzten Transporte vor Kriegsbeginn. „Ohne die Pogromnacht“, sagt er, „hätte ich den Krieg wahrscheinlich nicht überlebt.“

Die drei Männer erleben, wie in Europa und Australien wieder jüdische Symbole zerstört, Synagogen beschmiert, israelische Sportler bedroht werden. Es ist nicht mehr nur eine Frage der Erinnerung – es ist eine Frage der Gegenwart.

Nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober 2023 registrierten israelische und internationale Beobachter eine beispiellose Welle antisemitischer Übergriffe. In Deutschland, Frankreich, den USA – überall wurden jüdische Schüler, Gemeinden und Geschäftsinhaber wieder zu Zielscheiben. Das Tel Aviv University Center for the Study of Contemporary European Jewry dokumentiert: Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist weltweit auf Rekordniveau.

„Antisemitismus wird nie ganz verschwinden“, sagt Bingham. „Er ist das einfache Mittel, um die Schuld der Welt auf andere zu schieben.“ Doch der Überlebende glaubt auch, dass Bildung helfen kann – und Stärke. „Der Unterschied zu 1938 ist, dass wir heute Israel haben. Ein starkes, selbstbewusstes Land. Einen Staat, der verhindern wird, dass ein neuer Holocaust geschieht.“

Bingham, der als britischer Soldat diente und nach dem Krieg hochrangige Nazis verhörte, hält bis heute Vorträge und schreibt Kolumnen. Er ist laut Guinness-Buch der älteste aktive Journalist der Welt. Seine Stimme ist leise, aber eindringlich: „Wir dürfen Antisemitismus nicht nur verurteilen – wir müssen ihm entgegentreten, jedes Mal, wenn er auftaucht.“

Von den rund 200.000 noch lebenden jüdischen Überlebenden des Holocaust werden in den nächsten zehn Jahren etwa 70 Prozent nicht mehr unter uns sein. Ihre Zeugnisse sind das letzte lebendige Band zu einer Zeit, die viele vergessen möchten.

George Shefi formuliert es mit schmerzlicher Klarheit: „Wir haben gesehen, wohin Hass führt. Heute sehen wir wieder Parolen, Boykotte, verbrannte Fahnen. Die Welt steht an einem Scheideweg – und die Jugend muss sich entscheiden, ob sie hinsieht oder handelt.“

Ihre Worte hallen in einem Israel, das von Krieg, Schmerz und globaler Feindseligkeit erschüttert ist, wie eine moralische Warnung: Die Geschichte mahnt – aber sie schützt nicht von selbst. Nur wer sie weiterträgt, verhindert, dass sie sich wiederholt.


Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Center for Jewish History, NYC - Flickr: Interior view of the destroyed Fasanenstrasse Synagogue, Berlin, burned during the November Pogroms, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24622435


Montag, 10 November 2025

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