Durchbruch nach Jahrzehnten: Täter auf dem Foto „Der letzte Jude von Winniza“ erstmals eindeutig identifiziertDurchbruch nach Jahrzehnten: Täter auf dem Foto „Der letzte Jude von Winniza“ erstmals eindeutig identifiziert
Ein NS-Mörder, der zu einem der grausamsten Bildsymbole der Shoah wurde, hat endlich einen Namen. Mit Hilfe von KI und akribischer historischer Forschung gelang es, die Identität des Mannes zu klären, der 1941 einen jüdischen Gefangenen am Rand einer Grube erschoss.
Über achtzig Jahre blieb er ein anonymer Täter auf einem Foto, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: eine Hinrichtungsszene aus dem Sommer 1941, ein kniender jüdischer Mann, umgeben von Einsatzgruppen, kurz bevor ein deutscher Soldat den Abzug betätigt. Das Bild, später als „Der letzte Jude von Winniza“ bekannt geworden, wurde während des Eichmann-Prozesses erstmals öffentlich gezeigt und steht seither für die systematische Ermordung jüdischer Gemeinden im sowjetischen Raum. Nun zeigt eine neue Studie: Der Schütze hatte einen Namen, eine Biografie – und ein Leben, das tief in die Logik des Nazismus eingebettet war.
Der Historiker Jürgen Matthäus konnte den Täter identifizieren: Es handelt sich um den 34-jährigen Jakobus Onnen, einen Lehrer aus dem ostfriesischen Tichelwarf. Den entscheidenden Hinweis lieferte ein pensionierter Lehrer, der Matthäus kontaktiert hatte. Er glaubte, Onnen sei der Onkel seiner Frau. Seit Jahrzehnten geistere das Foto als unausgesprochene Familiengeschichte durch ihr Leben, schrieb er. Der Forscher verglich Familienfotos mit dem Täterbild – und eine darauf spezialisierte KI bestätigte den Befund mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent.
Onnens Lebensweg beschreibt ein Muster, das viele NS-Täter teilen: Er wurde in eine bürgerliche Familie geboren, sein Vater war Pädagoge. Nach dessen frühem Tod radikalisierte er sich politisch, trat bereits 1931 der NSDAP bei, ein Jahr später der SS. In der Kolonialschule Witzenhausen war er als Lehrer tätig, bevor er in die Todeskopfverbände von Dachau wechselte. Kurz darauf wurde er Ausbilder in Polen und 1941 Mitglied der Einsatzgruppe C – jener Einheit, die an zahllosen Massenerschießungen in den besetzten sowjetischen Gebieten beteiligt war.
Onnen selbst musste sich nie vor einem Gericht verantworten. Er starb 1943, vermutlich getötet von sowjetischen Partisanen. Über das Schicksal des jüdischen Mannes auf dem Foto ist bis heute nichts bekannt, ebenso wenig über den Fotografen. Das Bild existiert als isolierter Moment, der jedoch stellvertretend für ein ganzes System der Vernichtung steht.
Matthäus konnte in seiner Untersuchung noch eine weitere verbreitete Annahme korrigieren: Das Foto wurde wahrscheinlich nicht in Winniza aufgenommen, sondern rund 80 Kilometer nördlich in Berdytschiw. Diese Erkenntnis basiert auf einem ähnlichen Foto, das ein österreichischer Soldat in seinem Tagebuch aufbewahrte, versehen mit Ort und Datum: 28. Juli 1941, Zitadelle von Berdytschiw. Dort verübten Einsatzgruppen unter Himmlers Befehl kurz nach dem deutschen Einmarsch systematische Massaker an der jüdischen Bevölkerung.
Die Identifizierung Onnens ist ein Rückgewinn von historischer Wahrheit. Jahrzehnte nach dem Verbrechen wird deutlich, dass selbst Bilder, die wie ikonische Symbole erscheinen, konkrete Täter, konkrete Orte und konkrete Biografien haben. Für Historiker ist es ein seltener Moment, in dem das Wissen nicht nur wächst, sondern sich verdichtet – und ein weiteres Stück der Realität der Shoah sichtbar macht.
Autor: Redaktion
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Montag, 01 Dezember 2025