Wikipedia erklärt Israel zum Täter eines Genozids – und verlässt den Boden der NeutralitätWikipedia erklärt Israel zum Täter eines Genozids – und verlässt den Boden der Neutralität
Unauffällig im Ton, aber maximal in der Wirkung. Eine Änderung auf der Wikipedia Seite zu Israel erklärt den jüdischen Staat faktisch zum Täter eines Genozids. Nicht als Vorwurf, nicht als Anschuldigung, sondern als behauptete Tatsache. Der Vorgang ist kein redaktionelles Versehen, sondern ein medienpolitisches Alarmsignal.
Seit dem 11. Dezember findet sich im einleitenden Abschnitt des Wikipedia Artikels zu Israel eine Formulierung, die weitreichende Konsequenzen hat. Dort heißt es nun sinngemäß, Israel habe nach dem 7. Oktober 2023 begonnen, einen Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen zu begehen. Diese Aussage steht nicht im Konjunktiv, nicht als Vorwurf Dritter, sondern als Tatsachenbehauptung. Verlinkt wird sie mit dem eigens angelegten Wikipedia Eintrag „Gaza genocide“.
Zuvor war die Passage anders formuliert. Sie stellte klar, dass es Anschuldigungen gebe, erhoben von Menschenrechtsorganisationen und einzelnen UN Akteuren, ohne diese Bewertung zur objektiven Feststellung zu erheben. Genau diese Differenzierung wurde nun gestrichen. An ihre Stelle trat eine Festschreibung, die suggeriert, der Tatbestand sei geklärt.
Kein Gericht, kein Urteil, kein Konsens
Das Problem ist nicht nur politischer Natur, sondern auch juristisch. Weder der International Court of Justice noch der International Criminal Court haben Israel eines Genozids schuldig gesprochen. Der Internationale Gerichtshof hat lediglich festgestellt, dass ein Risiko bestehe und Schutzmaßnahmen einzuhalten seien. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Ein Risiko ist kein Urteil. Eine Plausibilitätsprüfung ist kein Schuldspruch.
Auch der Internationale Strafgerichtshof ermittelt zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht jedoch zu Genozid. Stand Ende 2025 existiert kein internationales Gerichtsurteil, das den Tatbestand des Genozids im Fall Israel bestätigt.
Wikipedia ignoriert diese Faktenlage. Die Plattform erhebt eine umstrittene politische Deutung zur vermeintlich gesicherten Wahrheit und verlässt damit ihren eigenen Anspruch auf Neutralität.
Kritik kommt sogar vom Gründer selbst
Bemerkenswert ist, dass die Kritik nicht nur von israelischen oder jüdischen Organisationen kommt. Auch Jimmy Wales, Mitgründer von Wikipedia, äußerte sich öffentlich besorgt über den Eintrag „Gaza genocide“. Er erklärte, der Artikel genüge nicht den Qualitätsstandards der Plattform und sei ein Beispiel dafür, wie dringend Neutralität verbessert werden müsse.
Wenn selbst der Gründer Zweifel an der Einhaltung der Grundprinzipien äußert, ist das mehr als ein internes Redaktionsproblem. Es ist ein Vertrauensbruch gegenüber Millionen Nutzern weltweit, die Wikipedia als vermeintlich objektive Wissensquelle betrachten.
Organisierte Verzerrung statt offener Debatte
Der Vorgang reiht sich ein in eine Serie von Vorwürfen, die seit Monaten erhoben werden. Bereits im August begann ein Ausschuss des US Kongresses, die Rolle von Wikipedia bei der Israel Berichterstattung zu untersuchen. Im Raum steht der Verdacht, dass staatliche und nichtstaatliche Akteure gezielt Einfluss auf Inhalte nehmen.
Besonders brisant ist ein Bericht der Anti-Defamation League aus dem Frühjahr 2025. Demnach hätten mindestens 30 hochaktive Wikipedia Editoren über Jahre hinweg systematisch Artikel zu Israel bearbeitet, mit auffälliger Schlagseite. Diese Gruppe sei nicht nur deutlich aktiver gewesen als andere Autoren, sondern habe auch die internen Diskussionsräume dominiert. Das Ergebnis ist kein offener Diskurs, sondern Deutungshoheit.
Der Schaden liegt in der Selbstverständlichkeit
Das Gefährlichste an der neuen Formulierung ist nicht ihre Schärfe, sondern ihre Platzierung. Sie steht nicht in einem Abschnitt über Kritik oder Kontroversen, sondern im Einführungstext. Dort, wo Leser eine nüchterne Zusammenfassung erwarten. Für Millionen Menschen weltweit ist dieser Abschnitt die erste und oft einzige Informationsquelle über Israel.
So entsteht eine neue Normalität. Eine umstrittene, politisch hoch aufgeladene Anschuldigung wird zur vermeintlichen Tatsache. Ohne Urteil. Ohne Konsens. Ohne Gegenposition. Das ist keine Aufklärung. Das ist Narrative Festschreibung.
Wikipedia als Akteur, nicht mehr als Plattform
Wikipedia versteht sich als neutrales Wissensarchiv. In der Praxis entwickelt sich die Plattform in bestimmten Konflikten jedoch zum politischen Akteur. Wer definiert, was als Fakt gilt, beeinflusst Wahrnehmung, Diskurse und letztlich politische Entscheidungen. Gerade im Kontext Israel hat diese Macht eine besondere historische Dimension.
Die Erklärung Israels zum Täter eines Genozids, ohne rechtliche Grundlage, ohne internationale Übereinstimmung, ist nicht nur fachlich falsch. Sie reproduziert ein jahrhundertealtes Muster, in dem Juden oder der jüdische Staat als ultimatives moralisches Übel dargestellt werden. Modern formuliert, digital verbreitet, aber strukturell vertraut.
Ein Testfall für Glaubwürdigkeit
Der Vorgang ist ein Prüfstein für Wikipedia. Entweder die Plattform kehrt zu ihrem Neutralitätsanspruch zurück und trennt sauber zwischen Vorwurf, Bewertung und gesicherter Tatsache. Oder sie akzeptiert, dass politische Aktivisten den Ton angeben. Beides ist möglich. Beides hat Konsequenzen.
Was nicht möglich ist, ist Neutralität zu behaupten und gleichzeitig einseitige Schuldzuweisungen als Fakten zu präsentieren. Wer Wissen kuratiert, trägt Verantwortung. Gerade dann, wenn es um Begriffe geht, die historisch, juristisch und moralisch so schwer wiegen wie der des Genozids.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: By ÄŒasopis Respekt, Pavel Reisenauer - ÄŒasopis Respekt, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148642707
Montag, 22 Dezember 2025