Frankreich: Anfangsdiagnose des neuen Antisemitismus

Frankreich: Anfangsdiagnose des neuen Antisemitismus


Frankreich: Anfangsdiagnose des neuen Antisemitismus

von Dr. Manfred Gerstenfeld

Der Antisemitismus ist in Europa auf ein Niveau gestiegen, auf dem viele engagierte Juden sich fragen, ob sie nicht auswandern sollten. Dasselbe gilt auch für eine beträchtliche Anzahl stärker assimilierter Juden. Noch stärker in der jüdischen Gemeinschaft verbreitet ist die Frage, ob ihre Kinder in ihren Heimatländern bleiben sollten.

In einem Umfeld, in dem die jüdische Gemeinschaft große Zweifel bezüglich ihrer Zukunft hat, hilft es eine größere Perspektive zu gewinnen, indem man auf den europäischen Antisemitismus zurückblickt, der nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 einen nie da gewesenen Stand erreichte.

Unter allen europäischen Ländern ist Frankreich aus einer Reihe von Gründen gut als Beispiel zu nutzen. Seit dem Jahr 2000 sind Niveau und Art der antisemitischen Vorfälle, die sich in Frankreich ereignen – zu denen mehrere Morde an Juden durch Muslime gehören – ernster als in anderen europäischen Ländern. Frankreich hat mit einer halben Million nicht nur die größte jüdische Gemeinde Europas, sondern mit geschätzten fünf Millionen auch die größte muslimische Gemeinschaft. Zusätzlich gab es in Frankreich die ersten hochrangigen Analysten, die zu Bewertungen des neuen Antisemitismus hervortraten, der sich in großem Maß vom klassischen religiösen und ethnischen Antisemitismus unterscheidet.

Die Arbeit dieser Analysten ist international nicht allzu bekannt, weil sie zumeist in Frankreich veröffentlicht wurde. Sie bleibt jedoch von großer Bedeutung, denn sehr viel von dem, was sie ursprünglich beobachteten, hat sich in noch größere Proportionen ausgeweitet. Das ist zu einem großen Teil dem Versagen der Regierungsbehörden geschuldet. Der Soziologe Shmuel Trigano, einer der führenden jüdischen Denker Europas, gehört zu den ersten, die einen substanziellen Beitrag zur Aufdeckung und Bewertung der Lage leisteten. Ende 2001 begann Trigano die Veröffentlichung einer Artikelserie mit dem Titel „Observatoire du monde juif“[1] (Beobachtung der jüdischen Welt); diese Serie lief über mehr als zweieinhalb Jahre.

Trigano hatte damit Erfolg die Zusammenarbeit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren zu organisieren, die viele Aspekte der von Hass getriebenen Ausbrüche analysierten. Die erste Ausgabe – datiert vom November 2001 – hatte Titel zum Inhalt, die auf das Klima für die französische jüdische Gemeinschaft hinwiesen: „Zielt die Intifada gegen die Juden Frankreichs?“, „Eine Atmosphäre der Unsicherheit“, „Der Nahost-Konflikt wird in westliche Demokratien exportiert“, „Religiöser Antisemitismus“, „Politischer Antisemitismus“ und „Die extreme Linke und ihre ideologischen Manipulationen“.[2] Das könnten durchaus Titel aktueller Aufsätze sein. Seitdem hat sich die Lage nur verschlechtert.

In einer der 2002 veröffentlichten Ausgaben erklärte Alexandre del Valle in einem Artikel mit dem Titel „Die neuen roten, braunen und grünen Gesichter des Antisemitismus“ das Zusammenlaufen verschiedener Totalitarismen; das bezog sich auf das Zusammentreffen von Kommunismus, Faschismus und Islamismus in Bezug auf Antisemitismus.[3] In der nächsten Ausgabe beschrieb Michèle Tribalat, dass das islamistische Netzwerk voller Botschaften war, die Israel mit den Nazis gleichsetzte.[4]

Ein weiterer wichtiger Wissenschaftler, der sehr viel zur Diagnose der antisemitischen Realität in Frankreich beitrug, ist Pierre-André Taguieff. Dieser nichtjüdische Philosoph veröffentlichte sein Buch „Die neue Judenphobie“ im Jahr 2002; es trug Wichtiges zum Verständnis des Antiisraelismus bei. Taguieff diskutierte diese neueste Mutation des Antisemitismus und wie sie das französische Judentum traf. Er stellte fest, dass zwar der klassische Antisemitismus als politisch inkorrekt betrachtet wird, Antiisraelismus aber nicht solchem Widerstand begegnete und damit in der Lage war sich rasch auszubreiten.

Taguieff entlarvte den Prozess, mit Hilfe dessen über die Verbrechen der angeblich Beraubten, einer Gruppe, zu der die Palästinenser zu gehören behaupten, hinweggesehen wird. Er beschrieb die Rolle der Medien bei der Rechtfertigung von Gewalt und der Darstellung von Kriminellen als Opfern. Er stellte heraus, dass der nächste Schritt im Verfälschungsprozess darin bestand zu erklären, dass die Kriminellen, jetzt als Opfer getarnt, für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden durften, weil sie durch ihre sozio-ökonomischen Umstände geformt wurden.

Taguieff entlarvte auch weitere Schlüsselthemen wie den Glauben, dass Muslime und Araber sich so verhalten, wie sie es tun, weil sie angeblich erniedrigt oder verfolgt sind. Er identifizierte den neuen Mythos des „eigentlich guten Palästinensers“ oder – mit anderen Worten – dass die Palästinenser nicht Falsches tun können. Taguieff erklärte, dass blinder Pazifismus sowohl den Aggressor als auch sein Opfer auf dasselbe moralische Niveau stellt und legitime Selbstverteidigung in ein kriminelles Vergehen kehrt.[5] Heute können wir viele Beispiele dieses Phänomens sehen, einschließlich des neu veröffentlichten Berichts des UNO-Menschenrechtsrats zum Gazakrieg von 2014.[6]

Taguieff entlarvte auch den weit verbreiteten Trugschluss, dass Islamophobie ein größeres Problem sei als Antisemitismus. Das Risiko von Juden in Frankreich, angegriffen zu werden, war und bleibt viele Male größer als das Risiko von Muslimen, angegriffen zu werden.

Ein weiterer wichtiger Beiträge leistender dafür Frankreichs fortgesetzten Verfall zu verstehen, war Emmanuel Brenner, das Pseudonym des Historikers Georges Bensoussan. Zusammen mit einer Reihe anderer Mitwirkender veröffentlichte er 2002 ein Buch, dessen Titel mit „Die verlorenen Territorien der französischen Republik“ übersetzt werden kann. Die Autoren analysierten den Zusammenbruch von Recht und Ordnung in mehreren Bereichen der französischen Gesellschaft; sie wiesen auf die Angst von Polizisten hin, bestimmte städtische Bereich zu betreten, die hauptsächlich von nordafrikanischen Immigranten und deren Nachkommen bewohnt sind. Sie analysierten zudem den Zusammenbruch der Gesellschaft in Teilen des Schulsystems, wo Antisemitismus, Rassismus und sexuelle Diskriminierung grassieren. Sie berichteten, dass in Schulen mit großen muslimischen Mehrheiten Kinder mit anderem Hintergrund oft derart eingeschüchtert werden, dass sie versuchen ihre Identität zu verbergen.[7]

Ebenfalls in Frankreich wurde die erste Regierungsstudie zum massiven neuen Ausbruch von Antisemitismus in Europa durchgeführt. Sie wurde 2003 von Nicolas Sarkozy angeordnet, der damals Innenminister war. Der Autor der Studie war der Arzt, Diplomat und Menschenrechtsaktivist Jean-Christophe Rufin, der den Kern vieler der mit Antisemitismus und Rasse in Verbindung stehenden Probleme Frankreichs identifizierte, die nicht nur fortbestehen, sondern auch exponentiell zunehmen. Dieses Dokument verdient eine eigene Analyse.[8]

[1] http:// obs. Monde.juif.free.fr/

[2] ebenda.

[3] Alexandre del Valle: Les nouveaux visage rouge-bruns-verts de l’antisémitisme. Obeservatoire du monde juif, Bulletin Nr. 3, Juni 2002.

[4] Michèle Tribalat: L’obsession anti-israélienne sur le net islamique. Observatoire du monde juif, Bulletin Nr. 4/5, Dezember 2002.

[5] Pierre-André Taguieff: Rising from the Muck: The New Anti-Semitism in Europe. Chicago (Ivan R. Dee) 2004). Im französischen Original wurde es veröffentlicht unter dem Titel: La nouvelle judéophobie. Paris (Fayard/Mille et Une Nuits) 2002.

[6] Bericht der detaillierten Feststellungen der Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen zum Gaza-Konflikt von 2014 (A/HRC/29/CRP.4), veröffentlicht am 22. Juni 2015.

[7] Emmanuel Brenner: Les territoires perdus de la République: Antisémitisme, racisme et sexisme en milieu scolaire. Paris (Mille et Une Nuits) 2004 (französisch).

[8] http://www.interieur.gouv.fr/rubriques/c/c2_le_ministere/c21_actualite/2004_10_19_rufin/rapport_Rufin.pdf

E-MailDruckenPress ThisFacebook8Twitter6TumblrLinkedInPocketGoogle

 

Erstveröffentlicht bei Heplev

 

Lesen Sie hierzu auch:

 

Dr. Manfred Gerstenfeld bei haOlam.de (Auswahl):


Autor: joerg
Bild Quelle:


Dienstag, 22 September 2015

Waren diese Infos wertvoll für Sie?

Sie können uns Danke sagen. Geben Sie einen beliebigen Betrag zurück und zeigen Sie damit, wie viel Ihnen der Inhalt wert ist.




empfohlene Artikel
weitere Artikel von: joerg

Folgen Sie und auf:


meistgelesene Artikel der letzten 7 Tage