Unter Kreuz und Halbmond: Die Juden im Mittelalter (Buchbesprechung)

Unter Kreuz und Halbmond:

Die Juden im Mittelalter (Buchbesprechung)


Die Studie „Unter Kreuz und Halbmond – die Juden im Mittelalter“ von Mark R. Cohen vergleicht die Situation der jüdischen Minderheiten vor allem in Nordeuropa mit jener ihrer Glaubensbrüder im Herrschaftsbereich des klassischen Islams und versucht zu klären, worin die Ursachen für deren Verschiedenheit liegen.

 

Ganz anders als der vom deutschen Verleger hinzugefügte Klappentext, der eine politisch korrekte Schönfärberei der Lage der Juden im Orient befürchten ließ nahelegt, zeichnet der Autor ein sehr differenziertes Bild. Dass politisch Interessierte der Versuchung nicht widerstehen würden, das Buch für sich zu vereinnahmen, ist offenbar auch dem Autor nicht entgangen, der gleich zu Anfang klarstellt, was nicht Thema der Studie ist: festzustellen, ob Christentum oder Islam toleranter seien. Vielmehr schließt der Autor sich unmissverständlich der Feststellung an, dass Toleranz weder für den Islam noch das Christentum je eine Tugend dargestellt hat. So zitiert er Geoffrey R. Elten:

 

Religionen erwachsen aus Glauben, und Glaube, der seine eigenen Überzeugungen bewahren möchte, kann die Existenz von Rivalen oder Andersdenkenden nicht zulassen. Daher betrachten Religionen, die in mächtigen Kirchen organisiert sind und ihr Umfeld beherrschen, Verfolgung als etwas Selbstverständliches und neigen dazu, Toleranz als Zeichen der Schwäche oder sogar als Niedertracht gegenüber der von ihnen verehrten Gottheit zu verstehen. Unter den Religiösen verlangen nur die Verfolgten Toleranz, die darauf angewiesen sind, wollen sie jemals triumphieren; gelingt ihnen das, beginnen sie allzu oft selbst, andere zu verfolgen.

 

Spricht man über die Lage der Juden unter islamischer Herrschaft, sieht man sich zwei Extrempositionen gegenüber: Die eine zeichnet von der klassischen Zeit des Islams das Bild eines interreligiösen Utopia, während eine jüngere Ansicht ganz im Gegenteil das Bild eines Islams zeichnet, unter welchem die Juden gar schlimmer behandelt wurden als im christlichen Europa. Dabei berufen sich beide Seiten paradoxerweise auf Maimonides. Die einen, um zu zeigen, wie das jüdische Geistesleben unter islamischem Einfluss zu seiner höchsten Blüte kam, die anderen, indem sie einen Brief Maimonides an die verfolgten Juden im Jemen zitierten, welchen jener auch vor dem Eindruck der eigenen Verfolgung durch die Fatimiden verfasste:

 

Meine Brüder! Vergeßt nicht, dass Gott uns wegen unserer schweren Vergehen diesem Volk – ich meine die Ismaeliten – ausgesetzt hat, die uns heftig schikanieren und uns ihre verhängnisvollen und diskriminierenden Gesetze aufzwingen. Dies wurde vom Erhabenen im folgenden Vers bestimmt: „Und unsere Feinde sind Richter über uns (Deuteronium 32, 31). Niemals hat es ein Volk gegeben, das Israel so großen Schaden zugefügt hat wie die Ismaeliten, die uns bis zum äußersten gedemütigt, erniedrigt und uns mit ihrem extremen Haß verfolgt haben.

 

Dem Autor gelingt es auf überzeugende Weise zu zeigen, dass weder die eine noch die andere Extremauffassung die Wirklichkeit widerspiegelt.

 

Die klassische Auffassung eines interreligiösen Utopias galt auch unter jüdischen Historikern bis vor einigen Jahrzehnten als allgemein anerkannt. Unter dem Eindruck der schweren Verfolgungen, welchen die Juden in christlichen Ländern vor allem ab dem 12. Jahrhundert ausgesetzt waren, erschien die relativ gesicherte Lage ihrer Brüder im Orient ihnen geradezu paradiesisch. Um ihren Bitten um Toleranz durch die christliche Mehrheitsgesellschaft mehr Gewicht zu verleihen, neigten sie dazu, die Toleranz in Arabien übertrieben darzustellen. Dies verlieh ihren Petitionen zusätzliches Gewicht, hofften sie doch, auf diese Weise die christlichen Herrscher bei ihrem Stolz packen zu können, indem sie darauf verwiesen, dass es doch wohl nicht sein könne, dass ihnen unter mohammedanischer Herrschaft mehr Toleranz entgegengebracht würde als in Europa.

 

Auch die jüngere Gegenauffassung ist politisch motiviert: mit der Zuspitzung des Nahostkonfliktes bemächtigten sich arabische Demagogen zunehmend jener klassischen jüdischen Historiker als Kronzeugen dafür, dass für den Streit zwischen Juden und Muslimen ausschließlich der Zionismus verantwortlich zu machen sei. Dem suchten zionistisch eingestellte Historiker nun entgegenzuwirken, in dem sie das Bild des interreligiösen Utopia in sein Gegenteil zu verkehren suchten und ein düsteres Zerrbild vom Leben der Juden in der islamischen Gesellschaft entwarfen. Auch einige in Israel aufgrund ihres späten Zuzugs sozial oft benachteiligte Sepharden (d.h. Juden orientalischer Herkunft), bedienten sich dieser Schwarzzeichnung jüdisch-arabischer Geschichte, um Teil der askenasischen Mehrheitsgesellschaft europäischen Ursprungs des modernen Israels zu werden, in welcher der Verweis auf den Holocaust spätestens mit dem Eichmannprozeß zunehmend Teil der nationalen Identität wurde.

 

Die Geschichte der Juden im christlichen Nordeuropa war spätestens seit dem 12. Jahrhundert geprägt von Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung. Dabei spielten unterschiedliche Faktoren eine unheilvolle Rolle. Einmal kamen die ersten Juden als Fernkaufleute nach Europa. Die christliche Religion verabscheute jedoch die Kaufmannstätigkeit. Die Kaufleute trafen auf eine agrarische Ständegesellschaft, in der Armut als Tugend galt. Der europäische Adel stattete die Juden dennoch mit Privilegienbriefen aus, wovon er sich Luxusgüter und eine Belebung des Wirtschaftslebens versprach. Dies stieß bei der christlichen Bevölkerung auf Neid und Fremdenfeindlichkeit. Als sich langsam ein christlicher Kaufmannsstand entwickelte, wurden die Juden als Konkurrenten empfunden. Bald blieb ihnen nur noch das ebenfalls als anrüchig empfundene Gewerbe des Geldverleihs zu Verbrauchszwecken.

 

Im Einflussbereich des Islams hingegen trafen die Juden auf eine Gesellschaft, in welcher der Handel eine lange Tradition hatte und keineswegs anrüchig war. Juden waren in das Wirtschaftsleben weitgehend integriert. Die Muslime bewunderten die Geschäftstüchtigkeit der Juden und machten sie sich zu nutze. Die arabische Welt war zudem schon aufgrund der Größe ihres Reichs und der eigenen Handelsreisetätigkeit an „Fremde“ gewohnt.

 

Die christliche Religion sieht sich selbst als das „wahre Israel“. Theologen übertrafen sich in ihren Polemiken gegen das Judentum. Die Tora wurde systematisch in einen Beleg für die Gottesschaft Jesu uminterpretiert. Die Juden wurden des Gottesmordes beschuldigt. In Paris wurde in einem Schauprozess die Tora verurteilt und öffentlich verbrannt. Mit dem Vordringen irrationaler Glaubenssätze an die Allgegenwart des Teufels wurden Juden zunehmend als mit dem Satan im Bunde dargestellt. Sie wurden beschuldigt, die Kreuzigung Jesu rituell am in der Hostie transfigurierten Leib Christi zu wiederholen, die Pest zu verbreiten u.s.w.. Der Islam hingegen sah die Tora zwar als ungültig an, suchte aber äußerst selten und erst unter dem Einfluss christlicher Konvertiten, sie vollständig für sich zu vereinnahmen, indem er in ihr Stützen für die eigene Religion suchte. Er hatte dies schlicht zu seiner Selbstversicherung nicht nötig.

 

Die rechtliche Stellung der Juden in Nordeuropa war äußerst prekär. Sie fand ihren Rahmen vor allem in den vom jeweiligen Herrscher erteilten Privilegienbriefen, die stets erneuert werden mussten und immer wieder willkürlich verändert und aufgehoben werden konnten. Mit dem Pakt von Omar hingegen räumte der Islam den Juden (und Christen) einen festen Platz in seiner Gesellschaft ein – den Dhimmistatus. Dieser Status ist natürlich weit davon entfernt, die These vom interreligiösen Utopia zu stützen. So waren Juden gezwungen, den doppelten Steuersatz zu entrichten und sich dabei zum Zeichen ihrer Unterwerfung auf den Hinterkopf schlagen zu lassen sowie besondere Kleidung zu tragen, die sie von der Mehrheitsbevölkerung unterschied (so auch in Nordeuropa). Doch er gab den Juden eine gesicherte gesellschaftliche Stellung, in der sie Schutz genossen, solange sie die Hierarchie nicht in Frage stellten. Das Tragen besonderer Kleidung diente im Islam nicht in erster Linie dazu, sie auszugrenzen, wie dies in Europa der Fall war, sondern vor allem zur klaren Separierung von Muslimen und Dhimmis, welche das Existenzrecht der Dhimmis nie in Frage stellte. Wer hierin einen Beleg für die angebliche Toleranz des Islams im Sinne eines modernen Toleranzverständnisses, wie der Westen den Begriff wohl seit John Locke zu verstehen pflegt, zu finden glaubt versucht, die Geschichte zu verdrehen. Aber es bleibt festzuhalten, dass die klassische islamische Gesellschaft dadurch gekennzeichnet war, dass sie der jüdischen und christlichen Minderheit mit dem Dhimmistatus eine relativ gesicherte Existenz mit festem rechtlichen Rahmen ermöglichte, wovon die christliche „Verfolgungsgesellschaft“ des Mittelalters weit entfernt war.

 

Als Beleg hierfür kann die unterschiedliche Reaktion auf Zwangsbekehrungen von aschkenasischen und sephardischen Juden herangezogen werden. Während der Kreuzzüge entschieden sich Juden immer wieder gegen die Taufe und für den Märtyrertod, so unvorstellbar war ihnen ein Leben als Christen, so aussichtslos auch die Hoffnung, später wieder zur alten Religion zurückkehren zu können. Ein hebräischer Bericht aus jener Zeit erzählt:

 

Die Frauen gürteten ihre Lenden, erschlugen erst ihre eigenen Söhne und Töchter und schließlich sich selbst. Auch viele Männer schlachteten ihre Frauen, Kinder und Säuglinge. Die sanftesten und zärtlichsten Frauen schlachteten das Kind ihrer Wonne. Sie allen standen auf und erschlugen einander. Junge Mädchen, Bräute und Bräutigame schauten aus dem Fenster und schrien mit lauter Stimme auf: „Schau hin und siehe, Herr, was wir tun, um Deinen großen Namen zu heiligen, um Dich nicht für einen gekreuzigten Sproß einzutauschen, der von seinem eigenen Geschlecht verschmäht, verabscheut und verachtet wurde, ein Bastard einer unreinen, liederlichen Mutter.“

 

Wo der Islam ausnahmsweise den Pakt von Omar – oft als Reaktion durch Übertretungen des Paktes durch in politische Machtstellungen aufgestiegene Juden – nicht respektierte und zu Zwangsbekehrungen überging, wofür es nur drei große Beispiele in der Geschichte gibt, stellte sich dies hingegen als Ausnahmeerscheinung dar. Den Zwangsbekehrten wurde zudem jedes Mal später trotz des strengen islamischen Apostasieverbots, welches den Abfall vom Islam mit dem Tode bedrohte, nach Abflauen der Fanatismuswelle gestattet, wieder zu ihrer alten Religion zurückzukehren. Dies und damit die Aussicht auf eine gesicherte Stellung im rechtlichen Rahmen des Omar-Paktes führte dazu, dass es kaum jüdische Märtyrer gab und sich die große Mehrheit der Juden – zum Schein – zum Islam bekehrte.

 

Das Buch beschäftigt sich nicht mit der Lage der Juden in arabischen Ländern nach dem Mittelalter. Es liefert einen differenzierten Blick auf die Mythen, welche das Verhältnis von Juden und Arabern in der klassischen Zeit des Islam umranken. Es leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion.

 

Uns allen ist zu wünschen, dass die Geschichte von Juden und Arabern, die sich ungleich positiver darstellt als jene von Juden und Christen, zu einem fruchtbaren Boden für eine bessere Zukunft in Israel wird. Dies kann aber nur gelingen, wenn der Islam gleichzeitig zu der Erkenntnis gelangt, dass der Pakt von Omar mit einem modernen Toleranzverständnis im Sinne John Lockes unvereinbar ist und den Juden das Recht zugesteht, als der natürliche Teil seines Einflussgebietes, dem Nahen Osten, gleichberechtigt in einem eigenen jüdischen Staat zu leben.

 

„Unter Kreuz und Halbmond“

Autor: Mark R. Cohen

erschienen im C.H. Beck Verlag

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Titel der amerikansichen Originalausgabe: „Under Crescent and Cross: The Jews in the Middle Ages“

erschienen bei Princeton University Press

 

Sascha Dominique Illiano

 

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Autor: haolam.de
Bild Quelle:


Mittwoch, 04 Februar 2015

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