"70 Schuss habe ich noch": Wie ein junger Mann den CSD Harz ins Visier nahm

"70 Schuss habe ich noch": Wie ein junger Mann den CSD Harz ins Visier nahm


Ein junger Mann prahlt in einer Kneipe mit seinem Hass, ein ganzes Fest gerät ins Fadenkreuz. Der CSD in Wernigerode war in Gefahr – nicht wegen Regen, sondern wegen der Realität.

"70 Schuss habe ich noch": Wie ein junger Mann den CSD Harz ins Visier nahm

Manchmal reicht ein Satz, um eine ganze Stadt in Unruhe zu versetzen. Ein Satz, ausgesprochen nicht irgendwo, sondern im Herzen einer Kleinstadt, ein paar Tage vor einem Fest, das für Vielfalt, Stolz und Selbstbestimmung steht. „Ich habe noch 70 Schuss.“ So soll es gewesen sein – gesagt von einem 20-Jährigen, inmitten eines ganz normalen Kneipenabends, bezogen auf den Christopher Street Day im Harz. Was wie ein schlechter Scherz klingen könnte, ist alles andere als das: Es war eine ernstzunehmende Drohung gegen queere Menschen – in Deutschland, im Jahr 2025.

Die Polizei hat den jungen Mann im Visier. Ermittler durchsuchten seine Wohnung in Wernigerode, fanden Munition und einen verschlossenen Tresor. Was darin liegt, wird noch geprüft. Doch schon jetzt ist klar: Die Gefahr war real. Und sie zeigt, wie verletzlich queere Sichtbarkeit in einer Gesellschaft ist, die sich gern als tolerant begreift – solange sie nicht selbst gefordert ist.

Ein Fest, das unter Polizeischutz stehen muss

Der Christopher Street Day in Wernigerode ist mehr als eine bunte Parade. Für viele queere Menschen ist er ein seltenes öffentliches Zeichen dafür, dass sie existieren dürfen – laut, sichtbar, stolz. Doch in diesem Jahr lag ein Schatten über dem Fest. Die Bedrohung war bekannt, sie wurde ernst genommen. Ein großes Polizeiaufgebot sicherte die Veranstaltung, rund 400 Menschen kamen trotzdem. Sie kamen, obwohl ihnen zuvor mit Schusswaffen gedroht worden war.

Was das mit den Menschen macht, lässt sich nur schwer in Zahlen messen. Aber es zeigt sich in Gesten, Blicken, in der Unsicherheit. Einige Eltern verboten ihren Kindern die Teilnahme aus Angst. Andere trauten sich nicht, ein Schild zu tragen oder ihr Gesicht zu zeigen. Die Moderatorin des CSD sprach später von Angst um Leib und Leben. Worte, die in einem Land wie Deutschland nicht normal sein dürften – und es doch geworden sind.

Hass in Aufklebern, Schmierereien, Diebstahl

Es war nicht nur die potenzielle Tat eines Einzelnen. Im Umfeld der Veranstaltung wurden hunderte queerfeindliche Aufkleber entdeckt, dazu Schmierereien, Plakate. Unbekannte stahlen nach der Parade einen hochwertigen Wasserspender vom Festwagen – ein gezielter Akt der Sabotage oder „nur“ ein Diebstahl? Die Grenze verschwimmt, wenn Menschen bewusst versuchen, queere Freude zu untergraben.

Es ist ein Muster: Drohungen, Pöbeleien, kleine wie große Akte der Gewalt. Sie alle zielen auf das gleiche Ziel – Angst verbreiten. Den öffentlichen Raum zurückerobern, den queere Menschen sich mühsam erkämpft haben. Und in vielen Fällen gelingt das. Nicht durch Massenangriffe, sondern durch das stete, schleichende Gift der Einschüchterung.

Ein Staat, der oft zu spät reagiert

Der mutmaßliche Täter ist – Stand heute – auf freiem Fuß. Die Ermittlungen laufen, die Staatsanwaltschaft hält sich bedeckt. Klar ist: Die Worte des jungen Mannes waren keine bloße Provokation. Sie standen im Raum, laut, deutlich, unmissverständlich. Und sie hätten Leben kosten können, wenn nicht rechtzeitig gehandelt worden wäre. Doch wie oft wird nicht rechtzeitig gehandelt? Wie oft müssen queere Vereine selbst Anzeige erstatten, selbst Beweise zusammentragen, weil die Institutionen träge sind oder zögern?

In einem Land, das sich für seine offene Gesellschaft rühmt, scheint es eine erschreckende Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität zu geben. Worte wie „Toleranz“ und „Weltoffenheit“ klingen gut auf Broschüren. Aber sie schützen niemanden vor einem Mann, der zu Hause Munition hortet und sich in Hassfantasien verliert.

Der CSD ist kein Fest für Randgruppen – er ist ein Gradmesser

Was in Wernigerode geschehen ist, sollte nicht als regionales Ereignis abgetan werden. Es steht exemplarisch für einen Zustand, der längst überall in Deutschland Realität ist. Queere Menschen leben in ständiger Abwägung: Wie offen darf ich sein? Wie sicher bin ich heute? Welches Risiko gehe ich ein, wenn ich meine Identität sichtbar mache?

Der CSD ist deshalb kein „Szenefest“, sondern ein Seismograf. Je stärker er bedroht wird, desto dringlicher wird die Frage, wie ernst es Deutschland eigentlich meint mit seiner vielbeschworenen Vielfalt. Und was passiert, wenn auf Worte keine Taten folgen.

Denn eines ist klar: Wer öffentlich davon spricht, auf andere zu schießen – und damit durchkommt –, sendet ein Signal. Nicht nur an die Betroffenen, sondern an alle, die in ihrem Hass bisher gezögert haben.


Autor: Andreas Krüger
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Mittwoch, 11 Juni 2025

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