Gewalt in Aleppo zeigt das politische Scheitern von Präsident Ahmed al SharaaGewalt in Aleppo zeigt das politische Scheitern von Präsident Ahmed al Sharaa
Schüsse in Wohnvierteln, Tote unter Zivilisten, politische Blockaden hinter den Kulissen. Die jüngsten Kämpfe in Aleppo sind kein isolierter Zwischenfall, sondern Ausdruck eines tiefen Risses im neuen Syrien unter Präsident Ahmed al Sharaa.
Die Schüsse fielen nicht an einer Frontlinie, sondern mitten in der Stadt. In den überwiegend kurdisch geprägten Vierteln Sheikh Maksoud und Ashrafiyeh in Aleppo wurden in dieser Woche zwei Zivilisten getötet, als bewaffnete Gruppen, die der Türkei nahestehenden Einheiten der sogenannten Syrischen Nationalarmee zugerechnet werden, das Feuer eröffneten. Die Sicherheitskräfte der Syrischen Demokratischen Kräfte reagierten. Was folgte, waren stundenlange Gefechte, widersprüchliche Schuldzuweisungen und ein weiteres Stück verlorenes Vertrauen.
Für die Menschen vor Ort ist diese Gewalt kein abstraktes geopolitisches Spiel. Aleppo, einst wirtschaftliches Herz Syriens, trägt noch immer die Narben jahrelanger Zerstörung. Viele Bewohner hofften, dass mit der Machtübernahme von Präsident Ahmed al Sharaa eine Phase der Stabilisierung beginnen würde. Diese Hoffnung bekommt nun erneut Risse.
Die Regierung in Damaskus erklärte über ihre staatlichen Kanäle, die SDF hätten die Auseinandersetzungen begonnen. Vertreter der kurdisch geführten Selbstverwaltung widersprachen entschieden. Wie so oft liegt die Wahrheit für Außenstehende im Nebel konkurrierender Narrative. Klar ist jedoch, dass die Gewalt zeitlich unmittelbar auf einen hochrangigen diplomatischen Besuch folgte und damit politisch kaum zufällig ist.
Türkischer Druck und ein blockierter Integrationsprozess
Kurz vor den Kämpfen war der türkische Außenminister Hakan Fidan in Damaskus. Gemeinsam mit seinem syrischen Amtskollegen Assad Shibani trat er vor die Presse und erhob schwere Vorwürfe gegen die Syrischen Demokratischen Kräfte. Ankara wirft ihnen vor, sich der vollständigen Eingliederung in die neuen syrischen Streitkräfte zu verweigern und damit die staatliche Einheit zu untergraben.
Besonders brisant war Fidans Behauptung, die SDF würden teilweise mit Israel kooperieren. Für diese Anschuldigung gibt es keinerlei belastbare Hinweise. In der syrischen Öffentlichkeit jedoch reicht bereits der Vorwurf aus, um eine politische Delegitimierung zu bewirken. Kontakte zu Israel gelten weiterhin als rotes Tuch. Der Vorwurf ist weniger als Tatsachenbehauptung zu verstehen, sondern als politisches Instrument.
Hinter der Rhetorik steht eine klare Linie Ankaras. Die Türkei betrachtet die SDF weiterhin als Ableger der PKK und damit als Sicherheitsbedrohung. Ihr strategisches Ziel bleibt ein zentralistisch regiertes Syrien, kontrolliert aus Damaskus, ohne autonome kurdische Strukturen an ihren Grenzen.
Dabei existiert seit März eine formelle Vereinbarung, die eine Integration der SDF in die Streitkräfte der syrischen Übergangsregierung vorsieht. Doch dieser Prozess ist festgefahren. Eine Frist zum Jahresende droht ergebnislos zu verstreichen. Frühere Berichte über einen möglichen Kompromiss, wonach die SDF als eigene Division mit regionaler Zuständigkeit Teil der neuen Armee werden könnten, sind verstummt.
Vertreter der SDF sprechen offen von Verzögerungstaktik. Man habe den Eindruck, Damaskus wolle Zeit gewinnen, insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten. Schriftliche Garantien, klare Zuständigkeiten, verbindliche Zusagen zu politischer Teilhabe fehlen bis heute.
Zwei unvereinbare Visionen für Syriens Zukunft
Der Kern des Konflikts reicht weit über militärische Fragen hinaus. Er ist ideologisch. Präsident Sharaa hat in seiner Verfassungserklärung vom März ein klares Bild gezeichnet. Syrien soll ein zentralisierter Staat sein, arabisch geprägt, mit dem Islam als Staatsreligion und maßgeblicher Quelle der Gesetzgebung.
Die von der SDF kontrollierten Gebiete im Norden und Osten Syriens folgen einem völlig anderen Ansatz. Dort wird auf Säkularismus gesetzt, auf dezentrale Verwaltung, auf religiöse Vielfalt und eine aktive Rolle von Frauen in Politik und Gesellschaft. Diese Gegensätze lassen sich nicht durch technische Integrationsabkommen überbrücken. Sie stehen sich fundamental gegenüber.
Ein Zusammengehen auf Augenhöhe erscheint unter diesen Voraussetzungen kaum realistisch. Vielmehr entsteht ein politisches Nullsummenspiel. Jeder Machtgewinn der einen Seite wird von der anderen als existenzielle Bedrohung wahrgenommen.
Internationale Zweifel schwächen Damaskus
Zu Beginn des Jahres schien Sharaa noch über eine starke Ausgangsposition zu verfügen. Die Machtübernahme verlief schnell, international weitgehend widerspruchslos. Das Treffen mit US Präsident Donald Trump im Mai wurde als Signal interpretiert, dass der Westen bereit sei, dem neuen Syrien eine Chance zu geben.
Doch seither hat sich das Bild eingetrübt. Mehrere schwere Gewaltausbrüche mit ethnischem und religiösem Hintergrund erschütterten das Land. Besonders die Massaker an Alawiten an der Küste sowie die brutalen Angriffe auf die drusische Bevölkerung im Süden sorgten international für Alarm.
Erschwerend kommt hinzu, dass Teile der neuen Sicherheitsstrukturen mit Figuren besetzt wurden, die aus jihadistischen Zusammenhängen stammen. Sanktionen gegen Milizenführer, die nun offiziell als Kommandeure der neuen Armee auftreten, haben das Vertrauen weiter beschädigt. Auch der Tod mehrerer US Soldaten durch einen Angehörigen syrischer Sicherheitskräfte bei Palmyra wirkt nach.
Diese Entwicklungen verändern nicht grundlegend die westliche Politik, aber sie erzeugen Unsicherheit. Für die SDF bedeutet das einen entscheidenden Punkt. Solange Zweifel an der Stabilität und Verlässlichkeit der Regierung in Damaskus bestehen, sinkt die Bereitschaft, eigene militärische Fähigkeiten aufzugeben.
Die Schlüsselrolle der Vereinigten Staaten
Am Ende entscheidet nicht Damaskus und nicht Ankara allein. Der entscheidende Faktor bleibt Washington. Die syrischen Regierungstruppen sind derzeit nicht in der Lage, die SDF militärisch zu bezwingen. Die Türkei wiederum wird ohne stillschweigende Zustimmung der USA keine großangelegte Operation riskieren.
Die fortgesetzte Präsenz amerikanischer Soldaten in den von der SDF kontrollierten Gebieten, die gemeinsame Bekämpfung des IS und die Verantwortung für zehntausende inhaftierte Dschihadisten schaffen eine komplexe Lage. Ein abrupter Kurswechsel der USA ist möglich, aber derzeit nicht absehbar.
Für Aleppo und andere sensible Regionen bedeutet das eine fragile Zwischenphase. Lokale Zusammenstöße, politische Provokationen und gegenseitige Schuldzuweisungen werden wahrscheinlicher. Eine nachhaltige Stabilisierung bleibt aus.
Was sich in Aleppo ereignet hat, ist deshalb mehr als ein lokaler Zwischenfall. Es ist ein Warnsignal. Das neue Syrien unter Ahmed al Sharaa steht an einer Weggabelung. Die Entscheidung, ob Vielfalt integriert oder unterdrückt wird, ist noch nicht gefallen. Die Gewalt in den Straßen zeigt jedoch, wie hoch der Preis des Zögerns bereits jetzt ist.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Symbolbild KI generiert
Samstag, 27 Dezember 2025