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Wenn antisemitischer Terror zur Wohlfühlgeschichte umgeschrieben wird, beginnt die Verdrängung

Wenn antisemitischer Terror zur Wohlfühlgeschichte umgeschrieben wird, beginnt die Verdrängung


Nach antisemitischen Anschlägen richtet sich der Blick der Öffentlichkeit auffällig oft weg von jüdischen Opfern – hin zu tröstlichen Erzählungen über nichtjüdische Helden. Das mag gut gemeint sein. Doch es ist gefährlich.

Wenn antisemitischer Terror zur Wohlfühlgeschichte umgeschrieben wird, beginnt die Verdrängung

Am ersten Abend von Chanukka versammelten sich jüdische Familien in Sydney, um ein religiöses Fest zu feiern. Kerzen, Gebete, Gemeinschaft. Stattdessen traf sie der blanke Terror. Zwei bewaffnete Täter eröffneten das Feuer auf die Feiernden. Mindestens ein Dutzend jüdischer Australier wurde ermordet, darunter ein Holocaust-Überlebender. Die erste Chanukkakerze wurde im Schatten des Todes entzündet.

Doch kaum waren die Schüsse verklungen, begann sich die öffentliche Erzählung zu verschieben.

Statt sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass Juden gezielt während eines jüdischen Festes ermordet wurden, richtete sich der Fokus rasch auf etwas anderes: auf die mutige Tat eines Mannes namens Ahmed al-Ahmed, der einen der Angreifer überwältigte und damit Leben rettete. Sein Handeln war zweifellos heroisch. Er verdient Anerkennung. Er hat Mut bewiesen, wo andere geflohen wären.

Und doch ist er nicht die Geschichte.

In der jüdischen Erinnerung gibt es für solche Menschen einen Namen: Gerechte unter den Völkern. Nach der Schoa wurde dieser Begriff geprägt, um Nichtjuden zu ehren, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden retteten. Diese Menschen stehen für moralische Größe in finsterster Zeit. Aber sie waren nie der Kern der Geschichte.

Der Holocaust handelt nicht von den Gerechten. Er handelt von sechs Millionen ermordeten Juden. Die Gerechten sind Lichter in der Dunkelheit, nicht ihr Inhalt. Wer sie ins Zentrum rückt, verschiebt den Blick und nimmt der historischen Wahrheit ihre Schärfe.

Genau dieses Muster wiederholt sich heute.

In sozialen Netzwerken, unter Medienberichten, in öffentlichen Stellungnahmen dominieren Kommentare, die den Anschlag von Sydney fast ausschließlich über die Tat des Retters erzählen. Seine Geschichte wird geteilt, gelikt, gefeiert – während die Namen der jüdischen Opfer verblassen. Als wäre der eigentliche Sinn des Anschlags nicht der Mord an Juden gewesen, sondern die Möglichkeit, eine versöhnliche Geschichte zu erzählen.

Das ist kein Zufall. Es ist ein altes, vertrautes Muster.

Antisemitische Gewalt wird erträglicher, wenn man sie umdeutet. Wenn man sie nicht klar als das benennt, was sie ist, sondern als Bühne für eine universelle, angenehme Erzählung. Eine Geschichte, die niemanden zwingt, sich mit Judenhass zu befassen. Eine Geschichte, die man teilen kann, ohne sich vorwerfen lassen zu müssen, „zu parteiisch“ zu sein oder „nur an Juden zu denken“.

Doch genau darin liegt das Problem.

Wer einen Terroranschlag auf Juden zur Kulisse für eine Nichtjuden-Geschichte macht, marginalisiert jüdisches Leid erneut. Er sendet die Botschaft: Jüdische Opfer allein reichen nicht aus, um Aufmerksamkeit und Empathie zu verdienen. Erst wenn ein anderer Akteur hinzukommt, wird die Geschichte erzählbar.

Antisemitismus richtet sich gegen Juden. Punkt. Er ist kein abstraktes Übel, kein allgemeines Gewaltphänomen, kein Missverständnis. Die Täter in Sydney schossen nicht zufällig. Sie schossen, weil dort Juden Chanukka feierten.

Und Sydney war kein Einzelfall.

Am selben Tag kam es zu weiteren antisemitischen Vorfällen. In Amsterdam eskalierten Proteste gegen eine Chanukka-Parade zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Kalifornien wurde ein jüdisches Haus, geschmückt zu Chanukka, mit Kugeln durchsiebt. Drei Angriffe auf Juden an einem Tag. Drei klare Signale. Und doch weigert sich ein Teil der öffentlichen Debatte beharrlich, den gemeinsamen Nenner zu benennen.

Antisemitismus.

Stattdessen wird ausgewichen. Relativiert. Umgedeutet.

Selbst politische Stellungnahmen bleiben oft vage. Der australische Premierminister etwa verurteilte die Tat, ohne klar zu benennen, dass es sich um einen antisemitischen Anschlag auf Juden handelte, die ein jüdisches Fest feierten. In den Kommentarspalten fordern Nutzer, die Geschichte solle sich „nicht nur um Juden drehen“, sondern um den Helden.

Warum eigentlich?

Was ist so bedrohlich daran, jüdische Opfer als jüdische Opfer zu benennen? Warum muss jüdisches Leid stets eingebettet, abgefedert, neutralisiert werden?

Es gibt eine Form des Antisemitismus, die nicht schreit. Sie lenkt um. Sie sagt: Ja, etwas Schreckliches ist passiert, aber macht daraus bitte keine jüdische Geschichte. Nennt es nicht beim Namen. Gebt uns eine andere Hauptfigur, eine, mit der wir uns wohler fühlen.

So entsteht die virale Erzählung von der interreligiösen Heldentat. Sie ist nicht falsch. Aber sie ist unvollständig. Und diese Unvollständigkeit ist politisch folgenreich.

Denn der Grund, warum es diesen Helden gab, ist der, dass Juden gejagt wurden.

Wenn dieser Satz nicht mehr zwingend ausgesprochen wird, wenn er optional wird, dann verliert die Gesellschaft ihre Fähigkeit, Antisemitismus zu erkennen – und zu bekämpfen. Dann wird Judenhass unsichtbar, obwohl er tötet.

Jüdische Leben sind keine pädagogischen Mittel, um der Mehrheitsgesellschaft ein gutes Gefühl zu geben. Sie sind kein moralisches Lehrstück. Sie sind Leben. Und sie wurden ausgelöscht, weil sie jüdisch waren.

In der Schoa wurden sechs Millionen Juden ermordet, unabhängig davon, wie viele Gerechte halfen. Diese Hilfe war entscheidend für Einzelne. Sie ändert nichts an der historischen Wahrheit. Genauso wenig ändert der Mut eines Einzelnen in Sydney die Tatsache, dass es sich um einen antisemitischen Terroranschlag handelte.

Wer heute lieber über den Retter spricht als über die Ermordeten, vermeidet nicht Spaltung. Er vermeidet Verantwortung.

Jüdische Opfer müssen im Zentrum der Geschichte über Gewalt gegen Juden stehen. Alles andere ist Verdrängung. Und Verdrängung war noch nie ein Schutz vor dem, was kommt.


Autor: Bernd Geiger
Bild Quelle: Screenshot X


Donnerstag, 18 Dezember 2025

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